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Die verworfene Ikone

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Das einzige Licht kam von einer Kerze. So schien es wenigstens dem, der den langgestreckten Raum betrat. Die paar Funseln, die zaghaft im Dunste schwelten, verloren sich darin wie weit entfernte glimmende Kohlen.

Die gekachelten Wände der ehemaligen Badeanstalt schimmerten feucht. Meine Leidensgenossen lagen zusammengekrümmt auf den dreistöckigen Pritschen. Andere hockten herum, nach Ungeziefer suchend oder ihre Lumpen zusammenflickend. Ein paar machten sich an dem qualmenden Ofen zu schaffen. Schwer zu sagen, wo sie die halberfrorenen Kartoffeln oder Rüben ergattert hatten, die zu kochen nun fast unmöglich war.

Geschimpfe hin, Flüche her. Dann lag wieder lastende Stille über dem Raum; nichts verriet, dass Weihnachten war, Weihnachten 1944 in Kiew.

Das Licht der Kerze hatte einige wenige von uns um den rohgezimmerten Tisch zusammengeführt. Wir hatten sogar ein Weihnachtslied angestimmt, aber es war gewesen, als sängen wir in den Rachen eines Ungeheuers hinein, das uns jeden Ton vom Mund weg verschluckte. Und von den Pritschen waren knurrende Laute gekommen, wir sollten doch Ruhe geben mit dem blöden Singsang. Wo man nicht mal was zu fressen habe.

So waren wir stumm geworden. Stumm schauten wir in das einzige Licht, jeder mit seinen Gedanken beschäftigt. Mir gegenüber saß ein ehemaliger Wachtmeister, im Zivilberuf akademischer Maler. Seit einer Woche arbeiteten wir zusammen an der Instandsetzung der Wohnung des Lagerobersten. Wir verstanden uns gut, obwohl wir nicht des gleichen Bekenntnisses waren. Ich hatte seine besonnene Art, die Dinge und Menschen zu sehen, schätzen gelernt.

Jochen Heller, so hieß er, brachte aus seinem Hosenbund etwas wie ein Taschenmesser zum Vorschein und bog den Docht der Kerze zurecht. Dann löste er das herabgeronnene Stearin vom Tisch und legte es unter die Flamme, Stückchen um Stückchen. Ich sah, dass in seinem Gesicht etwas aufstieg. Schließlich brach er das Schweigen.

„Ich habe eine Weihnacht erlebt“', so begann er, „die wohl ebenso schwer und dunkel war wie die heutige. Aber sie barg, bei aller Bitterkeit, doch auch ihren Trost in sich.“ Wir schauten auf, erstaunt und erlöst zugleich, dass einer den Mut fand zum Worte in dieser Stunde voll grauer Schwermut.

„Es war der Heiligabend 1941“, fuhr Jochen fort. „Nie werde ich die Schreckensbilder jener Tage vergessen können — wer die damalige „Frontbegradigung“ bei Tula‑Orel mitgemacht hat, wird wissen, was ich meine. Die brennenden Dörfer, die verzweifelten Menschen, die innere und äußere Not der Kameraden, die einen wahnsinnigen Befehl ausführen mussten — all das lastete mir so auf der Seele, dass ich mir eine Kugel wünschte, allen Ernstes; ich konnte das Grauen nicht mehr ertragen. Damals übrigens haben wir den Krieg verloren, damals, als wir die Seele des russischen Volkes herausgefordert haben.“

Heller strich sich mit der Hand über Stirn und Augen und versank für einen Augenblick in sich.

„Ich gehörte zur Aufklärungsabteilung 120, war Geschützführer im KG‑Zug. Aber das hatte damals beim Rückzug keine Bedeutung, wir waren alle infanteristisch eingesetzt. Heiligabend hatten wir uns in Gewaltmärschen vom Russen abgesetzt, wir sollten die Oka, die neue HKL (Hauptkampflinie), erreichen. In Erfüllung eines Sonderauftrags musste ich mit vier Mann eine Seitenroute einschlagen. Auf der Suche nach der Schwadron konnten wir uns dann nur an sehr unbestimmte Aussagen der Bevölkerung halten, und so hatten wir nach Einbruch der Nacht in dem riesigen Waldgebiet bald jede Orientierung verloren.

Es war eine Hundekälte — manchmal staken wir bis zur Hüfte im Schnee. Gegen 2 Uhr morgens waren wir so erschöpft, dass ein Vorankommen unmöglich war — sinnlos war es sowieso. Zum Glück stießen wir eben auf eine Strohmiete. Wir deckten uns meterhoch mit Stroh zu und versuchten zu schlafen. Den Kameraden ist das wohl auch gelungen. Mich hielt die Sorge wach: der Russe konnte uns auf den Fersen sein; wir konnten alle erfrieren, da das Stroh die feuchte Kälte nur wenig abhielt. Ich hatte Zeit, über den Stall von Bethlehem nachzudenken.

Im heraufdämmernden Morgen zeigte uns ein brennendes Dorf den Weg. Wir arbeiteten uns seitwärts vorbei — wir konnten der Lage nicht trauen und erreichten glücklich die „Hauptmarschstraße“ der Division. Klingende Namen hatten sie ja damals für alles.

Der Morgen des Weihnachtstages war einzigartig schön, von einer geradezu schmerzenden Schönheit. Das makellose Weiß des Schnees, das märchenhafte Funkeln des Rauhreifs, der Baum und Strauch überspann, verzauberte mich, trotz allem. Wenn man je solche Herrlichkeit malen könnte, dachte ich bei mir. Aber ich wurde grausam aus den Träumen gerissen — vor uns lag wieder ein Dorf, wieder ein brennendes Dorf.

Es war hier jedenfalls Zugegangen wie überall: Die nichtsahnenden Leutchen hatten den Landsern das Beste vorgesetzt, was sie noch hatten. Die Angst vor den anrückenden Bolschewiken stand ihnen in den Augen, manche weinten. Die Kameraden hatten Brot und Speck mit dem schlechtesten Gewissen von der Weit hinuntergeschlungen — und fünf Minuten später das Zündholz unter das Strohdach gehalten. Nun wirbelte das ganze Dorf hinauf in die gleißende Bläue, die schwarze Asche legte sich wie ein Höllenschnee über das unschuldige Weiß. Die entsetzten Dorfbewohner standen zusammengedrängt am Rande einer Schlucht. Die Kinder weinten, die Frauen jammerten und beteten, die Männer ballten die Fäuste in stummer Ohnmacht.

Meine Scham war entsetzlich, ich wäre am liebsten im Boden versunken. Aber wir mussten dicht an den verzweifelten Menschen vorbei Spießruten laufen unter Blicken, die härter trafen als Peitschen oder Stöcke.

Gerade wie wir die Gruppe des Elends erreichen, sehe ich, wie ein riesenhafter Greis aus einem kümmerlichen Haufen geretteten Hausrats eine lkone herauszieht. Eine Frau fällt ihm schreiend in die Arme. Er entwindet sich ihr, reckt sich hoch auf und schleudert das Bild mit einem dröhnenden Fluch hinab in die Schlucht.

Ich habe ein ziemliches Gedächtnis für Gesichter. Und dieser Kopf war einer von denen, die man nicht vergisst, wenn man sie einmal gesehen hat. Der Alte hatte mit seiner heftigen Bewegung die Schapka abgestreift, und ich erkannte den kugelrunden, eisenharten Schädel wieder, der mir schon einmal aufgefallen war, im Oktober, bei unserm Vormarsch über die Oka. Wie anders war damals die Szene gewesen! Wer dabei war, hat bestimmt solche Bilder gesehen:

Die gequälten Menschen begrüßten uns als Befreier. Und eben dieser Greis mit dem Eisenschädel stand damals vor seiner Hütte, barhäuptig, die Hände über der Brust gekreuzt, Psalmworte vor sich hinsingend. Tränen der Freude rollten ihm in den Bart.

Das stand nun blitzartig vor meiner Seele, als ich den Alten das Bild in die Schlucht hinabwerfen sah. Ich begriff, welche Tragödie des Vertrauens sich hier abgespielt hatte, und schämte mich noch tiefer für die, welche den Glauben dieser einfachen Menschen zerbrachen.“

Jochen Heller stützte den Kopf in beide Hände. Es war nichts mehr zu hören in dem von Menschen gefüllten Raum, aber die Stille war anders als vorher: nicht mehr lastend und abwehrend, sondern aufmerksam und horchend. Aus dem Dunkel tauchten Gesichter auf, von Hunger und Not gezeichnete Gesichter. Es fiel mir wieder einmal auf, wie viele von ihnen an Tierköpfe erinnerten, an Köpfe von Pferden, von Hunden, von Ziegen, von Ratten. Ich fragte mich: Sind sie eigentlich jetzt entstellt, oder trugen sie früher eine Maske? Sie bildeten schon eine zweite Reihe mir gegenüber, und es war, als stünden hinter ihnen noch viele; viele, die hungerten nach einem erlösenden Wort.

„Und nun kommt das“, so fuhr Heller fort, „wovon ich euch eigentlich erzählen wollte. — Wir beeilten uns, weiterzukommen, weiter durch Rauch und Aschenregen. Mit einmal standen wir still — es war unverkennbar: aus einer der brennenden Hütten drang das Schreien eines Kindes.

Wir sahen uns an — hier musste geholfen werden. Aber die Kate stand lichterloh in Flammen, und ich hatte die Verantwortung für das Leben meiner Männer.

Durch die Tür einzudringen war unmöglich; an dem hölzernen Windfang war das Feuer am weitesten vorgeschritten.

Während wir um das Haus rannten, um irgendeinen Eingang zu finden, hatte hinter mir einer ein Fenster eingestoßen und sich, ehe ich es verhindern konnte, durch die Öffnung hindurchgezwängt. Ich war entsetzt. Wir schrien, um ihm den Weg zurück anzuzeigen. Vielleicht aber haben wir dadurch eher das Finden des Kindes erschwert. Es dauerte wohl nur wenige Augenblicke, aber sie kamen uns unter dem Knattern und Zischen der Flammen wie eine Ewigkeit vor. Einer schleppte einen Stamm herbei — es gelang uns die Lehmwand unter dem Fenster einzustoßen. Nun endlich tauchte Josef Kehl, so hieß er, aus einer Wolke von Qualm und Feuer auf; sein Gesicht war hochgerötet, Brauen und Bart versengt, seine Augen blickten wild und stechend, die Uniform glimmte an mehreren Stellen. Im Arm trug er ein Bündel, das Kind, das er in seinen Mantel gewickelt hatte. Wir wollten ihm seine Last abnehmen, aber er hielt das Kleine fest, das wieder zu schreien begann, als wir sein Gesicht freimachten. Es war ein Mädchen, vielleicht vier Jahre alt.

In diesem Augenblick ertönte ein gellender Schrei, unten an der Schlucht. Eine Frauengestalt löste sich aus der Menschengruppe und rannte auf uns zu. Josef schritt ihr entgegen. Und dann fiel oben am Waldrand der Schuss.

Das ist nun drei Jahre her, und ich bin immer noch nicht fertig mit dem, was damals geschah. An solchen Erlebnissen wird man entweder zum stumpfen Tier oder zum inbrünstig Glaubenden. In jenem Augenblick ist mir erst richtig aufgegangen, wie sehr ich den Jüngsten aus meiner Gruppe ins Herz geschlossen hatte. Er war ein stiller und reiner Mensch, zuverlässig und hilfsbereit in jeder Lage. Stammte von der Mittelmosel, der älteste von achten. Ich habe ihn oft beobachtet, wie er verstohlen ein Foto seiner Angehörigen betrachtete. Bei den Kleinen hatte er Kindermädchen spielen müssen, da nach ihm zunächst nur Buben kamen. Mir war es, an jenem Weihnachtsmorgen, als hätte sich in der Gestalt dieses jungen Menschen ein Engel über das unsagbare Elend des Krieges emporgeschwungen, ein leuchtendes Trotzdem, und nun trifft ihn diese blinde Kugel, und ein höhnisches Gesicht grinst über die zusammengesunkene Gestalt: Was willst du, es ist alles sinnlos  und grässlicher Zufall.

Nun, das wirklich zu denken, hatte ich keine Zeit; es traf mich alles auf einmal; wie ein Faustschlag ins Gesicht. Ich ließ das Maschinengewehr in Stellung bringen und ein paar Stöße zum Waldrand hinaufschicken — nichts regte sich mehr, und wir haben nie erfahren, aus wessen Gewehr diese elende Kugel kam — war es ein Partisan, ein verbitterter Einwohner, ein russischer Spähtrupp? Ich bemühte mich um den Zusammengebrochenen — der Einschuss befand sich unter dem Schulterblatt. Das Blut sickerte nur aus der Wunde, aber es war zu sehen, dass es mit Josef schnell zu Ende ging.

Die Frau hatte unter Schreien und heftigen Gebärden das Kind an sich gerissen, und im Nu waren wir umringt von den Dorfbewohnern, die in grenzenloser Verwirrung und mit ehrfürchtiger Scheu auf den Sterbenden blickten. Indem tasteten seine Finger nach der Öffnung der Uniform auf der Brust, als suchten sie etwas, und als ich nachhalf, entdeckte ich ein Kettchen und daran ein Medaillon, wie es die Katholiken tragen. Es stellte die Mutter Jesu dar. Josef führte es mit letzter Anstrengung an die Lippen, dann sank seine Hand schlaff in den Schnee.

Wie ich nun aufblicke, sehe ich zwei weit aufgerissene Augen über mir. Es ist der alte Mann, der sich über den Sterbenden beugt und das Medaillon berührt. In seinen Zügen arbeitet es ungeheuer. Er bricht in den Schnee, wie vom Blitz gefällt, erhebt sich aber gleich wieder und geht eiligen Schrittes hinunter zur Schlucht. Er lässt sich hinuntergleiten bis zur Sohle, wirft sich mit dem Angesicht zu Boden, bekreuzigt sich dreimal und richtet sich dann auf, die lkone in den Händen. Mühsam arbeitet er sich nach oben und trägt das Bild, feierlich, als führte er eine Prozession an, zu uns herüber.

Er legt die lkone, die gleichfalls die Mutter mit dem Kinde darstellt, dem Toten auf die Brust. Dann spricht er mit kräftiger Stimme Gebete, die ich nicht verstehe, wohl in der altslawischen Kirchensprache, und die Menschen rundum bekreuzigen sich und beten mit ihm, bis ich Josef Kehl die Augen zudrücke.

Den Leichnam haben wir neben das Maschinengewehr auf den Schlitten gelegt und ihn später in dem splitterharten Erdreich am Ufer der Oka beerdigt.

Und an der Mosel, in der Stube des Winzerhauses, in dem er geboren wurde, hängt nun das Bild der Madonna mit den wissend traurigen und doch so gütigen Augen. Und seine Mutter zündet jeden Samstag davor die Ampel an, so, wie es früher eine andere Mutter getan hat, dort, wo ihr Sohn begraben liegt.

„Seht ihr“, so schloss Joachim Heller seinen Bericht, „das waren meine Weihnachten 1941. Es war viel Dunkel darin. Überhaupt, wie viele Dinge, und wohl gerade die tiefsten, werden für uns Menschen zeit unseres Lebens im Dunkel bleiben, eingebettet in eine undurchdringliche Schale! Aber wenn ich mir das Antlitz des Greises über dem Sterbenden vergegenwärtige, dieses zerbrochene und dann von einem ganz anderen Licht emporgerissene Antlitz, dann fühle und weiß ich: Es gibt noch eine Hoffnung für unsere Völker. Nur eine Hoffnung.

Und ich meine, wir sollten doch einmal versuchen, unser Weihnachtslied zu singen: Stille Nacht...“