6. Vorteil: Die Gabe des Gebetes.

Wenn die Gabe des Gebetes unter den Christen so selten ist, so verwundere ich mich nicht; sie ist besonders den Seelen vorbehalten, die ganz Gott angehören. Es ist wahr, daß Gott einigen mit dieser Gunst zuvorkommt, aber das geschieht nur, um sie zu veranlassen sich Ihm zu schenken. Wenn sie es verweigern, das zu tun, so zögert Er nicht, diese Gaben zurückzuziehen. Man kann es also als eine sichere Regel feststellen, daß jede Seele, die ganz Gott angehört, mit der Gabe des Gebetes begünstigt ist, sei es, daß sie es weiß, sei es, daß Gott zu ihrem Besten sie es nicht wissen läßt und daß anderseits die Seele, die Gott nicht angehört, die Gabe des Gebetes nicht hat, oder daß sie sie nicht lange haben wird, oder daß ihr vorgebliches Gebet nur Täuschung ist. So ist also die Hingabe seiner selbst an Gott mit all ihren Folgen der Probierstein des wahren Gebetes.

Dieses Gebet ist ganz Liebe, sowohl von Seiten Gottes als von Seiten der Seele. Es ist so leicht, so süß, so erquickend für das Herz, daß man ihm immer obliegen möchte, daß man es nur mit Bedauern verläßt und daß der notwendige Verkehr mit den Menschen peinlich, ja fast unerträglich wird.

Welche Liebesbeweise, welche Begünstigungen gewährt Gott der Seele! Sie weiß nicht, wie sie die Größe ihrer Dankbarkeit ausdrücken soll. Wenn du hierüber zweifelst, so lies, was der Hl. Augustin unmittelbar nach seiner Bekehrung an sich erfahren hat. Lies, was erzählt wird von vielen andern Heiligen oder was sie selber erzählt haben.

Dieses Gebet, zuerst einem sanften durchdringenden Taue ähnlich, wird gewöhnlich in seinem Fortschritt trocken; aber es vereinigt die Seele unmittelbarer mit Gott. Es ist nicht mehr ein Gebet der Seelenkräfte, sondern ein Gebet aus Herzensgrund, das ganz still vorgeht und das ein Bild ist von der unaussprechlichen ruhigen Freude, die Gott in Sich selber hat. Mit einem Wort, durch das Gebet vertieft sich die Seele jeden Tag mehr in Gott, bis sie sich in Ihn versenkt und verliert.