9. Kapitel

Von einem anderen Übel, vor dem wir den Verstand bewahren sollen, um richtig zu urteilen

Das andere Übel, vor dem wir den Verstand bewahren müssen, ist die vorwitzige Neugier. Wenn wir ihn nämlich mit schädlichen, törichten und ungehörigen Dingen belasten, machen wir ihn unfähig, das zu erfassen, was eigentlich zur wahren Selbstüberwindung und Vervollkommnung gehört. Darum sollst du wie abgestorben sein für alles Forschen nach weltlichen, wenn auch erlaubten Dingen, deren Kenntnis nicht notwendig ist. Halte deshalb deinen hochfahrenden Geist möglichst innerhalb bestimmter Grenzen, wie sie die Torheit des Kreuzes liebt.

 Neuigkeiten und Zeitströmungen, die unbedeutenden sowohl wie die bedeutenden, sollen für dich nicht vorhanden sein.

Auch im Verlangen nach der Kenntnis himmlischer Dinge sei maßvoll und demütig und wünsche nichts anderes zu wissen als Jesus Christus, den Gekreuzigten, sein Leben und seinen Tod, wie auch seine Forderungen an dich.

Alles andere halte fern von dir! Dann wirst du Gott wohlgefällig sein; denn jene sind seine bevorzugten Lieblinge, die nach ihm verlangen und nur diejenige Kenntnis zu erlangen trachten, welche dazu dient, um ihn, das höchste Gut, zu lieben und seinen heiligen Willen zu erfüllen. Jedes andere Verlangen und Forschen ist Eigenliebe, Stolz und ein Fallstrick des Teufels.

Befolgst du diese Ratschläge, dann wirst du vielen Nachstellungen der listigen Schlange entgehen.

Sobald der böse Feind merkt, daß in jenen, die sich dem geistlichen Leben widmen, der Wille entschlossen und stark ist, greift er sie aufseiten der Erkenntnis an, um durch diese auch Herr über den Willen zu werden.

Deshalb flößt er namentlich solchen, die einen scharfen und durchdringenden Verstand besitzen und aus diesem Grunde leicht zum Hochmut geneigt sind, hohe und außerordentliche Gedanken ein, in die sie sich mit Lust vertiefen, so daß sie meinen, bereits Gott zu genießen. Darüber vergessen sie, ihr Herz zu läutern und sich auf Selbsterkenntnis und wahre Abtötung zu verlegen. Und auf diese Weise geraten sie in die Fallstricke des Stolzes und erheben schließlich ihren Verstand zum Abgott. Ja, allmählich kommen sie, ohne sich dessen bewußt zu werden, so weit, daß sie sich einbilden, keines Rates und keiner Belehrung vonseiten anderer Menschen mehr zu bedürfen, weil sie sich bereits daran gewöhnten, sich bei jeder Gelegenheit an den Abgott ihrer eigenen Urteilskraft zu wenden. Das ist ein ungemein gefährliches Übel und fast kaum mehr zu heilen.

Der Stolz des Verstandes ist nämlich viel gefährlicher als der des Willens, da der letztere durch die Übung des Gehorsams geheilt werden kann, sobald der Verstand ihn erkannt hat.

Von wem und wie kann aber derjenige geheilt werden, welcher der festen Überzeugung huldigt, sein Urteil wäre besser als das eines jeden anderen? Wie wird ein solcher sich dem Urteil eines anderen unterwerfen, das er niemals für so gut wie sein eigenes hält?

Ist das Auge der Seele, nämlich der Verstand, mit dem man die Wunde des hochfahrenden Willens erkennen und heilen sollte, selbst krank, blind und vollen Stolzes, wer wird dann imstande sein, sie zu heilen? Ist die Leuchte Finsternis und die Richtschnur zum Irrtum geworden: Was soll dann aus dem übrigen werden?

Widerstehe also dem Stolze beizeiten, bevor sein Gift in dein Inneres bis ins Mark der Seele dringt. Ziehe deinem Verstande Grenzen und unterwirf dein Urteil gerne dem eines anderen; ja, werde töricht um Christi willen, und du wirst weiser sein als Salomo.