52. Kapitel

Vom Nutzen der Betrachtung über das Leiden Christi und der Nachahmung seiner Tugenden

Unter den vielen Vorteilen, die du aus dieser heilsamen Betrachtung über das Leiden des Herrn schöpfen kannst, steht an erster Stelle, daß du nicht allein deine begangenen Sünden bereust, sondern auch darüber dich betrübst, daß deine ungeordneten Leidenschaften, die ihn ans Kreuz schlugen, noch immer in dir leben.

Der zweite Nutzen ist, daß du ihn um Verzeihung wegen deiner Sünden und um die Gnade eines tiefen Hasses wider dich selbst bittest, um ihn nie mehr zu beleidigen, damit du ihm in Zukunft zum Ersatz für seine vielen, um deinetwillen erduldeten Mühseligkeiten vielmehr in treuer Liebe dienst, was ja ohne einen solchen heiligen Haß nicht möglich ist.

Der dritte Vorteil soll sein, daß du jede deiner sündhaften Neigungen, so unbedeutend sie auch ist, mit aller Kraft auf Leben und Tod bekämpfst.

Der vierte Gewinn soll der sein, daß du mit allen Kräften dich bestrebst, die Tugenden des göttlichen Heilandes nachzuahmen, da er nicht bloß gelitten hat, um uns zu erlösen und für unsere Missetaten Genugtuung zu leisten, sondern auch, um uns ein Beispiel der heiligen Nachfolge zu geben.

Zu diesem Ziel lege ich hier eine Betrachtungsweise vor, die dir dienlich sein kann.

Wünschst du dir, um Christus nachzufolgen, zum Beispiel die Geduld anzueignen, dann erwäge folgende Punkte:

- Wie verhält sich die Seele Christi während seines Leidens Gott gegenüber?

- Wie handelt Gott der Seele Christi gegenüber?

- Wie verhält sich die Seele Christi sich selbst und seinem Leibe gegenüber?

- Wie handelt Christus gegen uns?

- Wie sollen wir uns Christus gegenüber verhalten?

Erstens: Erwäge, wie die Seele Christi, ganz in die Anschauung Gottes versenkt, die unendliche und unbegreifliche Größe, gegen die alles Geschaffene wie ein Nichts verschwindet, bewundert und sich trotz ihrer unwandelbaren Glückseligkeit hienieden der unwürdigsten Behandlung von seiten der Menschen unterwirft, von welchen sie nur Untreue und Schmach erntet; und wie sie Gott anbetet und sich dankbar und rückhaltlos zum Opfer darbietet.

Zweitens: Hierauf betrachte, wie Gott sich der Seele Christi gegenüber verhält; wie er verlangt und sie drängt, für uns Backenstreiche, Anspucken, Roheiten, Geißeln, Dornen und das Kreuz auf sich zu nehmen, und wie er ihr sein Wohlgefallen kundtut, sie mit Schimpf und Weh ganz überhäuft zu sehen.

Drittens: Sodann gehe zur Betrachtung der Seele Christi über; wie sie im hellsten Lichte ihres Verstandes das große Wohlgefallen Gottes über ihre Leiden schaut und mit allen Fasern und der ganzen unermeßlichen Glut ihres Wesens seine göttliche Majestät wegen ihrer unendlichen Verdienste und zahllosen Verpflichtungen ihr gegenüber unaussprechlich liebt; und wie sie, von Gott aufgefordert, aus Liebe zu uns und zu unserem Beispiel zu leiden, sich freudig und zufrieden zu bereitwilligem Gehorsam gegen seinen heiligsten Willen anschickt.

Aber wer vermag in den Abgrund der Sehnsüchte einzudringen, die die reinste und liebevollste Seele da empfand? Obwohl sie geradezu in einem Wirrwarr von Mühsal und Leid sich befindet, sucht sie immer nach neuen Arten und Wegen, um noch mehr zu leiden, und, da sie nicht findet, was sie verlangt, gibt sie sich und ihren unschuldigsten Leib freiwillig auf Gnade und Ungnade den verruchten Menschen und bösen Geistern der Hölle als Beute hin.

Viertens: Nun schau deinen Jesus, wie er mit liebevollem Blick zu dir gewandt dich anspricht: „Sieh, meine Seele, wohin mich deine unbeherrschten Begierden gebracht haben, da du dir nicht einmal ein wenig Gewalt antun wolltest.

Sieh, wie viel und wie gern ich aus Liebe zu dir leide, um dir ein Beispiel wahrer Geduld zu geben.

Bei all meinen Schmerzen beschwöre ich dich, dieses und jedes andere Kreuz zu meiner größeren Freude willig zu tragen und dich rückhaltlos den Händen deiner Feinde, die ich dir sende, zu überlassen, auch wenn sie noch so gemein und grausam gegen deine Ehre und deinen Leib wüten würden.

O, wenn du wüßtest, welchen Trost ich daraus schöpfe! An diesen Wunden kannst du es gut erkennen, die ich als wertvolle Kleinodien erhielt, um deine arme, mir so überaus teure Seele mit kostbaren Tugenden zu schmücken. Wenn ich deinetwegen bis zum äußersten Opfer bewogen wurde, warum solltest du nicht auch ein wenig leiden wollen, um meinem Herzen Freude zu bereiten und meine Wunden zu lindern, die mir deine Ungeduld geschlagen hat? Jene Ungeduld, die mich bitterer betrübt, als diese Wunden selbst schmerzen."

Fünftens: Dann bedenke, wer mit dir so spricht, und du wirst erkennen, daß es der König der Herrlichkeit selbst ist, Jesus Christus, wahrer Gott und wahrer Mensch. Schau das Übermaß seiner Qualen und Mißhandlungen, die selbst der gemeinste Verbrecher nicht verdient hätte!

Sieh deinen Herrn, wie er inmitten so großer Leiden nicht nur standhaft und geduldig ausharrt, sondern voller Freude ist, wie wenn er Hochzeit feiere. Gleichwie einige Wassertropfen ein Feuer noch mehr entfachen, so wuchsen mit seinen Schmerzen, die seiner überströmenden Liebe nur winzig erschienen, die Freude und Sehnsucht, noch mehr zu erdulden.

Ferner bedenke, daß dein mildreichster Herr dies alles nicht aus Zwang oder aus Eigennutz gelitten und getan hat, sondern - wie er es dir selbst sagte - aus reiner Liebe zu dir und damit du dich in seiner Gefolgschaft in der Tugend der Geduld übst.

Laß dich tief ergreifen von seinem heißen Wunsch und seiner innigen Freude, die du ihm durch deine Übung in dieser Tugend bereitest. Erwecke inbrünstige Akte der Sehnsucht, nicht allein geduldig, sondern auch freudig dein jetziges und jedes andere, härtere Kreuz zu tragen, um deinem Gott nachzufolgen und ihm größeren Trost zu schenken.

Stelle dir hierauf im Geiste seine Schmach und Bitterkeit, die er deinetwegen erlitt, und seinen Starkmut und seine Geduld vor und schäme dich dann des Gedankens, deine Geduld wäre auch nur ein Schatten von Geduld und deine Schmerzen und Leiden wären wirkliche Schmerzen und Leiden.

Sei in ständiger Furcht und banger Sorge, daß der leiseste Gedanke, nicht aus Liebe zu deinem Herrn leiden zu wollen, ein Plätzchen im Innern deines Herzens finden und sich dort auch nur für einen Augenblick festsetzen könnte.

Der Gekreuzigte ist das Buch, das ich dir zum Lesen gebe; da kannst du das wahre Abbild aller Tugenden kennenlernen. Er ist das Buch des Lebens, und darum unterweist er nicht nur den Verstand mit Worten, sondern entflammt auch den Willen durch sein lebendiges Beispiel. Sämtliche Bücher der Welt - es gibt derer ja so viele - vermögen alle zusammen keinen vollkommeneren Unterricht für die Aneignung der Tugenden zu geben, wie es die Betrachtung des Gekreuzigten tut.

Sei überzeugt, daß die, welche viele Stunden lang das Leiden unseres Herrn beweinen und seine Geduld betrachten, aber beim Nahen einer Widerwärtigkeit sich so ungeduldig gebärden, als ob sie im Gebet etwas ganz anderes gelernt hätten, irdischen Kriegern ähneln, die im Zeltlager und vor der Schlacht mit Heldentaten prahlen, beim Erscheinen des Feindes aber die Waffen wegwerfen und die Flucht ergreifen.

Was kann es auch Törichteres und Beklagenswerteres geben, als die Tugenden des Herrn wie in einem glänzenden Spiegel zu betrachten, sie liebzugewinnen und zu bewundern, und dann nachher, wenn die Gelegenheit sie zu üben da ist, ihr Andenken und ihre vorige Hochschätzung vollständig aus dem Auge zu verlieren?