51. Kapitel

Von der Betrachtung des Leidens Christi

Was ich über das Leiden des Herrn bereits (Kap. 46) ausführte, dient dazu, das Gebet und die Betrachtung mittels Bitten zu gestalten. Nun will ich noch einiges hinzufügen, wie wir daraus die verschiedensten Seelenstimmungen gewinnen können.

Betrachte zum Beispiel einmal das Geheimnis der Kreuzigung Christi, von dem du unter anderen folgende Punkte besonders erwägen kannst.

Erstens: Auf dem Kalvarienberg wird der Herr von den rasenden Schergen mit Gewalt entkleidet, so daß sein Fleisch, an dem infolge der Geißelung die Kleider festkleben, in Fetzen abgerissen wird.

Zweitens: Die Dornenkrone wird ihm vom Haupte genommen und nachher wieder aufgesetzt, was ihm neue Wunden verursacht.

Drittens: Unter grausamen Hammerschlägen wird er mit Nägeln ans Kreuz geheftet.

Viertens: Da seine heiligen Glieder nicht bis zu den für die Kreuzigung gebohrten Löchern reichen, werden sie von den rohen Henkersknechten mit solcher Gewalt angezogen, daß alle seine Gebeine ausgerenkt werden.

Fünftens: Am harten Stamm des Kreuzes hängend, hat der Herr keine andere Stütze als die Nägel, die wegen der schweren und drückenden Last des Körpers seine allerheiligsten Wunden mit unbeschreiblichem Schmerz vergrößern und verschlimmern.

Willst du so aus diesen oder ähnlichen Punkten das Gefühl der Liebe in deinem Herzen wecken, dann suche durch ihre Betrachtung zu einer immer größeren Erkenntnis der unendlichen Güte deines Herrn zu gelangen, der aus Liebe zu dir so vieles hatte leiden wollen. Mit der vertieften Erkenntnis wächst auch in gleichem Maße die Liebe.

Infolge der Erkenntnis dieser unendlichen Liebe und Güte, die der Herr dir erwiesen hat, wird in dir sicher ein tiefer Reueschmerz wach werden, deinen Gott, der deiner Sünden wegen so vielfach mißhandelt und gepeinigt wurde, so häufig und so undankbar beleidigt zu haben.

Um in dir die Hoffnung zu beleben, erwäge, daß der große Gott solche Not und solches Elend auf sich nahm, um die Sünde zu tilgen und dich aus den Fesseln Satans und deiner eigenen Schuld zu befreien und um dich mit seinem ewigen Vater zu versöhnen und dich mit Vertrauen zu erfüllen, in all deiner Not zu ihm deine Zuflucht zu nehmen.

Innige Freude wirst du empfinden, wenn du von seinen Leiden zu ihren Wirkungen übergehst und siehst, wie er dadurch die ganze Welt von der Sünde erlöste, den Zorn des Vaters besänftigte, den Fürsten der Finsternis zuschanden machte, den Tod überwand und die Throne der Engel wieder bevölkerte. Und diese Freude wird sich bei der Betrachtung jener Freude steigern, die die allerheiligste Dreifaltigkeit mit der allerseligsten Jungfrau Maria und der ganzen triumphierenden und streitenden Kirche darüber empfindet.

Um dich zum Haß wider deine eigenen Sünden aufzureizen, fasse alle Erwägungen dahin zusammen, daß du dir vorstellst, der Herr hätte zu keinem anderen Zweck gelitten, als dich zum Haß gegen deine sündhaften Neigungen, namentlich gegen jene zu bewegen, die dich am stärksten beherrscht und seiner göttlichen Güte am meisten mißfällt.

Um deine Bewunderung zu erregen, erwäge, ob es etwas Größeres gibt, als den Schöpfer des Weltalls und Spender allen Lebens von seinen eigenen Geschöpfen verfolgt und getötet, die höchste Majestät verachtet und erniedrigt, die Gerechtigkeit verurteilt, Gottes Schönheit angespieen, des himmlischen Vaters Liebe gehaßt, das innerste und unzugänglichste Licht der Gewalt der Finsternis überliefert und die Herrlichkeit und Glückseligkeit selbst für die Schmach und Schande des menschlichen Geschlechtes gehalten und ins tiefste Elend versenkt zu sehen.

Um deinen mit Schmerz überhäuften Herrn zu bemitleiden, dringe nach der Betrachtung seiner äußeren Leiden im Geiste weiter zu anderen, unvergleichlich heftigeren Leiden, die ihn innerlich quälten. Haben jene dein Herz betrübt, dann wäre es erstaunlich, wenn diese nicht dein Herz vor Schmerz zerrissen.

Christi Seele schaute Gottes Wesenheit, wie sie diese jetzt im Himmel schaut, und erkannte sie aller Ehre und jeglichen Dienstes unendlich würdig und wünschte deshalb sehnlichst aus unaussprechlicher Liebe zu ihr, daß jede Kreatur ihre ganzen Kräfte dafür einsetze.

Da sie aber das Gegenteil wahrnahm, wie sie durch die ungeheuren Sünden und abscheulichen Frevel der Welt so entsetzlich beleidigt und verachtet wurde, war sie zu gleicher Zeit von unendlichem Kummer und Schmerz durchwühlt, der sie umso mehr peinigte, je größer ihre Liebe und Sehnsucht war, daß eine so erhabene Majestät geehrt und ihr von allen gedient werden sollte.

Gleichwie man die Größe dieser Liebe und Sehnsucht nicht zu erfassen vermag, so kann sich auch niemand einen Begriff machen, wie bitter und tief das innere Leiden des gekreuzigten Heilandes gewesen ist.

Und da er ferner alle Geschöpfe unsagbar liebt, so schmerzten ihn im Verhältnis zu dieser Liebe alle ihre Sünden unermeßlich, weil sie sich durch diese von ihm trennen. Denn durch jede Todsünde, die je ein Mensch beging und noch begehen wird, reißt sich ja ein jeder, so oft er sündigt, von der Seele des Herrn los, mit der er durch die Liebe vereint war.

Weit schmerzlicher ist diese Trennung als die eines körperlichen Gliedes, das aus seiner natürlichen Lage entfernt wird, weil die Seele viel edler und vollkommener als der Leib und darum auch für Schmerzen viel empfindlicher ist.

Unter den Leiden, die der Herr für die Geschöpfe erduldete, war das am bittersten, das er über die Sünden der Verdammten empfand, die sich niemals mehr mit ihm vereinigen können und deshalb ewige unaussprechliche Qualen erleiden müssen.

Will die Seele (von ihrem lieben Jesus gerührt), um mitzuleiden, weiter in Christi Leid vordringen, dann wird sie noch ungemein heftige Leiden in ihm entdecken, die ihm nicht nur die begangenen, sondern auch die unterlassenen Sünden verursachten. Denn es steht außer Zweifel, daß unser Herr die Verzeihung jener und die Verhinderung dieser Sünden um den Preis seines kostbaren Leidens erwarb.

Gewiß wird es dir nicht an anderen Erwägungen mangeln, um mit deinem betrübten und gekreuzigten Heiland mitzuleiden. Denn nie hat ein mit Vernunft begabtes Geschöpf einen Schmerz erduldet, noch wird es je einen erleiden, den er nicht selbst in sich empfunden hätte.

Die Beleidigungen, Anfechtungen, Verleumdungen, Strafen, alle Angst und Not aller Menschen hienieden schmerzten die Seele Christi empfindlicher als jene, die sie selbst durchmachen mußte. Denn alle ihre großen und kleinen Schmerzen der Seele und des Leibes, bis zum geringsten Kopfweh und Nadelstich, sah unser Herr und wollte sie in seiner unermeßlichen Liebe mitleiden und in seinem mildreichsten Herzen mitempfinden.

Wie sehr ihn aber die Schmerzen seiner heiligsten Mutter betrübten, wer vermag das zu schildern? Denn so wie der Herr litt und duldete, litt auch die allerheiligste Jungfrau, wenn auch nicht in demselben Maße, aber dennoch aufs bitterste.

Und diese ihre Schmerzen erneuerten die Seelenwunden ihres gebenedeiten Sohnes, so daß sein mildreichstes Herz gleichsam wie von ebenso vielen glühenden Pfeilen der Liebe verwundet wurde. Darum kann man sein Herz der vielen Qualen wegen, die ich andeutete, und noch mehr der unzähligen, uns unbekannten Schmerzen wegen mit Recht „eine liebevolle Hölle freiwilliger Leiden" nennen, wie man von einer frommen Seele berichtet, die es so in heiliger Herzenseinfalt zu bezeichnen pflegte.

Forschst du aufmerksam nach der Ursache der vielen Leiden, die unser gekreuzigter Erlöser und Herr ertragen hat, dann findest du keine andere als die Sünde.

Hieraus folgt eindeutig, daß das wahre Mitleid und der eigentliche Dank, die er von uns verlangt und die wir ihm unsagbar schulden, darin bestehen, daß wir über seine Unbill einzig und allein aus Liebe zu ihm Schmerz empfinden, über alles die Sünde hassen und hochherzig gegen seine Feinde und unsere sündhaften Neigungen kämpfen, damit wir den alten Menschen mit seinen Werken aus- und den neuen Menschen anziehen und unsere Seele mit den christlichen Tugenden schmücken.