44. Kapitel

Vom Gebet

Wie notwendig das Mißtrauen gegen sich selbst, das Vertrauen auf Gott und die Übung in diesem Kampfe sind, wurde bisher dargelegt. Aber viel notwendiger ist das Gebet - die vierte oben angegebene Kunst und Waffe -, womit wir nicht nur die genannten Fertigkeiten, sondern auch alles andere Gute von unserem Herrgott erlangen können.

Das Gebet ist nämlich das Werkzeug, um alle Gnaden zu erlangen, die aus der Quelle der göttlichen Güte und Liebe auf uns herabfließen.

Durch das Gebet wirst du - wenn du dich seiner wohl zu bedienen weißt - Gott das Schwert in die Hand drücken, mit dem er für dich kämpft und siegt.

Um sich seiner aber mit Nutzen bedienen zu können, mußt du dich gewöhnen und bemühen, folgende Fertigkeiten zu besitzen:

Erstens sollst du beständig von einem lebhaften Verlangen durchdrungen sein, der göttlichen Majestät in allem und so, wie es ihr am wohlgefälligsten ist, zu dienen.

Um dieses Verlangen anzufachen, beherzige wohl: daß Gott um seiner überaus bewundernswerten Erhabenheit, Güte, Majestät, Weisheit, Schönheit willen und wegen seiner anderen unendlichen Vollkommenheiten jeden Dienstes und aller Ehre unaussprechlich würdig ist; daß er selbst, um dir zu dienen, dreiunddreißig Jahre litt und sich abmühte und deine häßlichen, durch die Bosheit der Sünde vergifteten Wunden nicht mit Öl, Wein und Leinwandfetzen behandelte und heilte, sondern mit dem kostbaren Naß, das aus seinen heiligen Adern und seinem reinsten, von Geißeln, Dornen und Nägeln zerrissenen Fleische geflossen ist. Überdies bedenke, wie überaus nutzbringend dieser Dienst ist, daß wir Herr über uns selbst, Sieger über den bösen Feind und Kinder Gottes selber werden.

Zweitens: Sei auch von einem lebendigen Glauben und Vertrauen beseelt, daß der Herr dir alles zu seinem Dienste und zu deinem Wohle Erforderliche zu geben bereit ist.

Dieses gottgefällige Vertrauen ist das Gefäß, das der liebe Gott mit dem Schatz seiner Gnade anfüllt. Und je größer und weiter dieses ist, umso reicher kehrt das Gebet in unser Inneres zurück.

Wie könnte auch der getreue und allmächtige Gott es versäumen, uns seiner Gnadengeschenke teilhaftig zu machen, da er doch selbst das Gebet um dieselben befohlen hat und uns den Heiligen Geist versprach, wenn wir mit Glauben und Beharrlichkeit darum bitten würden?

Drittens: Widme dich dem Gebet immer in der reinen Absicht, nicht deinen Willen, sondern den Willen Gottes allein zu begehren, und dies in deinen Bitten wie in der Erfüllung deines Flehens. Denn Gottes Wille muß dich zum Beten antreiben und dein Verlangen nach Erhörung, soweit er selbst will, wecken. Deine Absicht soll mit einem Worte darauf gerichtet sein: deinen Willen mit dem Willen Gottes (und nicht umgekehrt den göttlichen Willen mit deinem) zu vereinen.

Da dein Wille von der Eigenliebe angesteckt und verdorben ist, verirrt er sich häufig und weiß nicht, um was er bittet. Der göttliche Wille hingegen ist mit unaussprechlicher Güte verbunden und kann niemals irren. Darum steht er als König und Gebieter über jedem Willen; als würdige Richtschnur, der alle folgen und sich fügen müssen.

Deshalb sollen wir stets auch nur das erbitten, was mit dem göttlichen Wohlgefallen im Einklang steht. Zweifelst du einmal, ob dies wirklich der Fall ist, dann darfst du das Betreffende nur unter der Bedingung begehren, wenn Gott damit einverstanden ist, daß du es erlangst. Wovon du aber überzeugt bist, daß es Gott gefällt, wie zum Beispiel die Tugenden, das erflehe mehr, um Gott zu gefallen und dienen zu können, als wegen eines anderen, wenn auch geistigen Zweckes oder Nutzens.

Viertens: Geh zum Gebet, mit Werken geschmückt, die mit deinen Bitten übereinstimmen, und nach dem Gebet bemühe dich noch eifriger, dich für die Gnade und die gewünschte Tugend empfänglich zu machen.

Die Übung des Gebetes soll aber derart von der Übung der Selbstüberwindung begleitet sein, daß eine Übung der anderen abwechselnd folgt. Denn um eine Tugend beten und sich um ihren Besitz nicht bemühen, das hieße nichts anderes als Gott versuchen.

Fünftens sollen den Bitten meistens Danksagungen für empfangene Wohltaten auf diese oder ähnliche Weise vorausgehen: „O mein Gott, der du mich aus Güte erschaffen und erlöst und mich unzählige Male ohne mein Wissen aus den Händen meiner Feinde errettet hast, eile mir auch jetzt zu Hilfe und schlage meine Bitte nicht ab, obschon ich mich immer widerspenstig und undankbar dir gegenüber erwiesen habe."

Betest du um eine besondere Tugend und stehst du gerade unter dem Druck einer Widerwärtigkeit, dann vergiß nicht, für die Gelegenheit, die dir geboten wird, zu danken; denn auch diese ist kein geringer Gunsterweis.

Sechstens: Da das Gebet seine Stärke und Kraft, Gott zur Erfüllung unserer Wünsche zu bewegen, aus seiner Wesensgüte und Barmherzigkeit und aus den Verdiensten des Lebens und Leidens seines eingeborenen Sohnes schöpft, wie auch aus den gegebenen Versprechen, uns zu erhören, so beschließe deine Bitte mit einer oder mehreren der folgenden Anrufungen: „Gewähre mir, o Gott, diese Gnade um deiner übergroßen Milde willen!" - „Mögen die Verdienste deines Sohnes die Erhörung meiner Bitte erwirken!" - „Gedenke, o mein Gott, deiner Verheißungen und erhöre gnädig mein Gebet!"

Ein anderes Mal bitte auch um Gnade durch die Verdienste der allerseligsten Jungfrau Maria und anderer Heiligen, die bei Gott viel vermögen und bei ihm hoch in Ehren stehen, da sie seine göttliche Majestät in diesem Leben verherrlichten.

Siebtens ist es notwendig, ohne Unterlaß zu beten; denn die demütige Beharrlichkeit überwindet selbst den unüberwindlichen Gott. Wenn die Ausdauer und Zudringlichkeit der Witwe im Evangelium den verruchten und ungerechten Richter zur Gewährung ihrer Bitte zu rühren vermochte (Lk 18,2-8), sollten unsere Bitten nicht den viel mehr rühren, in dem die ganze Fülle der Güte wohnt?

Sollte der Herr nach deinem Gebet noch zögern, dich heimzusuchen und zu erhören, ja selbst das Gegenteil zum Ausdruck bringen, so fahre trotzdem im Gebete fort und bewahre ein unerschütterliches und lebendiges Vertrauen auf seine Hilfe! Es fehlen ihm keineswegs die Mittel, die in unendlicher Fülle alles Maß übersteigen, um allen die notwendigen Gnaden zu schenken.

Liegt der Fehler nicht auf deiner Seite, dann sei überzeugt, daß du demnach alles, was du erbittest, oder aber etwas anderes, was dir viel nützlicher ist, oder sogar beides zugleich erhalten wirst.

Je mehr du dich zurückgewiesen glaubst, desto tiefer erniedrige dich vor dir selber. Erinnere dich deiner Vergehen, und unverwandten Blickes auf die göttliche Liebe stärke dein Vertrauen auf dieselbe immer mehr. Bleibt es fest und unerschütterlich, umso wohlgefälliger ist es dem Herrn, je stärker es angefochten wurde.

Erweise dich allezeit dadurch dankbar, daß du seine Güte, Weisheit und Liebe stets anerkennst, auch dann, wenn er deine Bitte abschlägt, gerade wie wenn er sie gewährt hätte, und daß du bei jedem Ereignis standhaft und freudig in demütiger Unterwerfung unter seine göttliche Vorsehung verbleibst.