40. Kapitel

Von der Zeit der Tugendübungen und den Anzeichen des Fortschrittes

Die Dauer der Zeit zu bestimmen, die wir zur Übung in den verschiedenen Tugenden verwenden sollen, kann nicht meine Sache sein, da eine solche Festlegung sich nach der Beschaffenheit und dem Bedürfnis des einzelnen, dem Fortschritt auf dem Wege des geistlichen Lebens und dem Urteil des Seelenführers zu richten hat.

Geht man, wie gesagt, dabei planmäßig und mit Eifer zu Werke, so unterliegt es keinem Zweifel, daß man schon in wenigen Wochen große Fortschritte machen wird.

Ein Zeichen für die Fortschritte, die man in der Tugend bereits gemacht hat, ist, daß man trotz geistiger Trockenheit, Dunkelheit, Seelennot und mangels allen Trostes unbeirrt und unablässig in den Tugendübungen fortfährt. Ebenso ist auch die Stärke (bzw. die Schwäche) des Widerstandes, den die Sinnlichkeit den Tugendakten entgegensetzt, ein klarer Beweis dafür. Denn in demselben Maße, als diese an Kraft verliert, dürfen wir annehmen, daß wir vorangeschritten sind. Empfindet man namentlich bei plötzlichen und unvorhergesehenen Anfechtungen in den sinnlichen und niederen Trieben keinen Widerstreit und Aufruhr, so zeigt dies deutlich, daß wir die Tugend erworben haben.

Je größer die Bereitwilligkeit und Geistesfreude sind, die unsere Tugendakte begleiten, umso mehr können wir der Überzeugung sein, daß wir in unserer Tugend wirkliche Fortschritte zu verzeichnen haben.

Merke dir aber noch das eine: Wir dürfen uns keineswegs der Meinung hingeben, wir seien tatsächlich im vollen Besitz einer Tugend oder wir seien Sieger über eine unserer Leidenschaften, wenn wir nach längerer Zeit und nach vielen Kämpfen keine Regung der Sinnlichkeit mehr verspüren. Dabei können die Arglist und der Einfluß des bösen Feindes und unser trügerisches Naturell die Hand im Spiele haben, so daß wir einen Fehler in unserem geheimen Hochmut noch für eine Tugend ansehen.

Trachten wir übrigens nach jener Vollkommenheit, zu welcher Gott der Herr uns beruft, dann werden wir uns nie einbilden, auch nur die ersten Grenzsteine auf dem Weg der Tugend überschritten zu haben, sollten wir auch schon lange auf ihm gewandert sein.

Ja, gleich einem neugeworbenen Krieger, der soeben seine Ausbildung zum Kampfe erhielt, fang immer wieder von neuem deine Übungen an, gerade als ob du dich bisher noch nicht ertüchtigt hättest.

Außerdem erinnere ich dich daran, daß du mehr auf dein Vorankommen in der Tugend bedacht bist, als daß du deinem schon erreichten Fortschritt nachforschst; denn Gott der Herr, der eigentliche und alleinige Erforscher unserer Herzen, gibt ihn den einen zu erkennen, den anderen wieder nicht, je nach der Wahrnehmung, ob diese Kenntnis zur Demut oder zum Hochmut führt, und als liebevoller Vater nimmt er den einen die Gefahr hinweg und bietet sie anderen als eine Gelegenheit zum Wachstum in der Tugend an.

Bemerkt die Seele auch gar keinen Fortschritt, so soll sie trotzdem in ihrer Tugendübung nicht nachlassen; sie wird ihn einmal wahrnehmen, wenn es der Herr für gut findet, ihn zu ihrer größeren Vervollkommnung erkennen zu lassen.