37. Kapitel

Gelegenheiten zur Erlangung der Tugenden soll man nicht vorübergehen lassen

Wir haben nun zur Genüge gesehen, daß wir im Streben nach Vollkommenheit immer voranschreiten müssen und nicht mehr rasten dürfen.

Wachen wir daher sorgfältig darüber, daß uns auch zur Erlangung der Tugenden keine Gelegenheit, die sich uns bietet, entgeht.

Darum handeln jene nicht richtig, die sich den Widerwärtigkeiten, die zu diesem Zwecke dienen können, möglichst zu entziehen suchen. Wünschst du - um bei unserem Beispiel zu bleiben - die Tugend der Geduld zu erwerben, dann tust du nicht gut daran, wenn du dich von solchen Personen, Verrichtungen oder Plänen, die dich zur Ungeduld reizen, fernhältst.

Aus diesem Grunde darfst du keinen Verkehr meiden, weil er dir lästig ist. Vielmehr pflege den Umgang auch mit solchen, die dir Verdruß und Langeweile verursachen, und halte dich stets bereit, alles Ärgerliche und Unangenehme, das dir begegnen könnte, bereitwillig zu ertragen, sonst wirst du dich niemals an die Geduld gewöhnen.

Ist dir eine Arbeit ihrer selbst oder des Auftraggebers wegen unangenehm, oder weil sie dich von angenehmeren Beschäftigungen abhält, dann unterlasse sie trotzdem nicht! Fange sie nur an und setze sie fort, solltest du dich auch beunruhigt fühlen und durch ihre Unterlassung Ruhe finden können. Du würdest ja sonst niemals leiden lernen und deine Ruhe wäre doch keine echte, weil sie nicht aus einem von der Leidenschaft geläuterten und mit Tugenden geschmückten Herzen käme.

Dasselbe sage ich auch von lästigen Vorstellungen, die dein Gemüt bisweilen peinigen und verwirren. Du darfst sie nicht ganz von dir weisen, denn die Qual, die sie dir verursachen, dient dazu, dich zur Geduld in Widerwärtigkeiten zu erziehen.

Wer etwas anderes behauptet, der lehrt dich wohl mehr, der Mühsal aus dem Wege zu gehen, als die ersehnte Tugend zu gewinnen. Allerdings muß sich vor allem ein unerfahrener Kämpfer bei den erwähnten Gelegenheiten mit Vorsicht und Klugheit zurückhalten und schützen, indem er einmal beherzt vorgeht und dann wieder geschickt ausweicht, je nachdem er sich eine größere oder geringere Tugend und Geisteskraft erworben hat.

Niemals aber darf man ihnen ganz den Rücken kehren und sich derart vor ihnen zurückziehen, daß man jede unangenehme und widerwärtige Gelegenheit flieht. Wohl würden wir uns für den Augenblick vor der Gefahr eines Falles bewahren, doch später wären wir einer größeren Gefahr zur Sünde der Ungeduld ausgesetzt, weil wir uns nicht früher durch die Übung der entgegengesetzten Tugend gerüstet und gestärkt haben.