22. Kapitel

Wie uns die sichtbaren Dinge durch die Betrachtung des menschgewordenen Wortes in den Geheimnissen seines Lebens und Sterbens zur Beherrschung unserer Sinne verhelfen

Im Vorhergehenden habe ich gezeigt, wie wir unseren Geist von den sichtbaren Dingen zur Betrachtung des göttlichen Wesens erheben können. Nun erlerne auch das Verfahren, an dieselben die Betrachtung des menschgewordenen Wortes durch die Erwägung der heiligsten Geheimnisse seines Lebens und Leidens anzuknüpfen.

Alle Dinge der Welt können diesem Zwecke dienen, wenn man, wie oben gesagt wurde, in ihnen den allerhöchsten Gott als die einzige und erste Ursache erblickt, die denselben alles Sein, alle Schönheit und alle Vorzüge, die sie besitzen, verliehen hat, und dann weiter erwägt, wie groß und unermeßlich seine Güte ist, daß er, der alleinige Urheber und Herr der ganzen Schöpfung, sich so erniedrigte, daß er Mensch wurde und für uns Menschen leiden und sterben wollte und sogar zuließ, daß seine eigenen Geschöpfe sich wider ihn erhoben und ihn ans Kreuz schlugen.

Viele Dinge sind besonders geeignet, die heiligen Geheimnisse vor unserem geistigen Auge zu vergegenwärtigen, wie beispielsweise Waffen, Stricke, Geißeln, Säulen, Dornen, Schilfrohre, Hämmer usw., welche Werkzeuge seines Leidens waren.

Ärmliche Wohnungen werden dir den Stall und die Krippe des Herrn ins Gedächtnis rufen. Beim Regen sollen wir des göttlichen Blutregens gedenken, der im Ölgarten von seinem heiligsten Leibe niedertropfte und zur Erde niederrann. Steine, die wir erblicken, werden uns jene Felsen vergegenwärtigen, die sich bei seinem Tode spalteten; die Erde erzählt uns von dem Beben, das sie erzittern machte; die Sonne von der Finsternis, die sie verdunkelte; und sehen wir Wasser, so möge es uns an jenes Wasser erinnern, das aus seiner heiligsten Seite floß. - Ähnliches kann man auch von anderen Dingen sagen.

Genießt du Wein oder ein anderes Getränk, so denke an den Essig und die Galle, womit man den Herrn tränkte.

Reizen dich Wohlgerüche, dann erinnere dich des Leichengeruches, den die Toten auf dem Kalvarienberge ausströmten und der den Herrn belästigte.

Legst du deine Kleider an, dann denke an das ewige Wort, das die menschliche Natur annahm, um seine Gottheit zu verhüllen.

Ziehst du deine Kleider aus, dann erinnere dich, wie dein Heiland seiner Gewänder beraubt wurde, um nackt und bloß für dich gegeißelt und gekreuzigt zu werden.

Hörst du das Volk schreien und toben, dann gedenke der abscheulichen Rufe, die ans Ohr deines göttlichen Heilandes drangen: „Ans Kreuz! Ans Kreuz! Hinweg mit ihm! Hinweg mit ihm!"

Vernimmst du den Schlag einer Uhr, dann erinnere dich jener qualvollen Herzschläge, die dein Jesus empfand, als er im Ölgarten wegen des nahen Leidens und Sterbens zu zittern begann; oder stelle dir vor, jene grausamen Hammerschläge zu vernehmen, mit welchen man ihn ans Kreuz schlug.

Bei jeder Gelegenheit, wo sich bei dir oder anderen Trauer oder Weh melden, erwäge, daß dieses Leid im Vergleich zu jenen unfaßbaren Qualen, die den Leib und die Seele deines Herrn peinigten und niederdrückten, nichts ist.