12. Kapitel

Von den verschiedenen sich widerstreitenden Willensneigungen

Man kann wohl sagen, daß in diesem Kampfe der Wille von zwei verschiedenen Seelenkräften bewegt werden kann. Wird der Wille von der Vernunft geleitet, nennt man ihn den vernünftigen oder höheren, da er der höchsten Seelenkraft folgt. Die andere Willensneigung folgt den niederen Seelenkräften, die man auch als Begierlichkeit, Fleischeslust, Sinnlichkeit oder Leidenschaft bezeichnet.

Die letztere verdient im eigentlichen Sinne nicht die Bezeichnung Wille, denn da wir durch die Vernunft zu Menschen erhoben sind, kann man nicht behaupten, daß wir das wirklich wollen, was die Sinne uns vorhalten, solange wir nicht mit dem höheren Willen zustimmen.

Unser ständiger geistlicher Kampf hat infolgedessen hauptsächlich darin seine Ursache, daß unser vernünftiger Wille zwischen dem höheren Willen Gottes und dem niederen, sinnlichen hingestellt ist und fortwährend von beiden bestürmt wird, da jeder ihn auf seine Seite zur Unterwürfigkeit und zum Gehorsam zu ziehen versucht.

Deshalb erleiden Anfänger, die noch mit verkehrten Gewohnheiten behaftet sind, viele Mühen und Beschwerden, wenn sie sich entschließen, ihr sündhaftes Leben zu bessern, der Welt und der Sinnenlust zu entsagen und sich ganz der Liebe und dem Dienste Jesu Christi hinzugeben. Denn die Angriffe, die ihr vernünftiger Wille vom göttlichen Willen und von ihren sinnlichen Willensneigungen, die einander beständig bekämpfen, zu ertragen hat, sind überaus heftig und empfindlich und nicht ohne große Pein.

So ergeht es jedoch nicht denen, welche bereits an die Tugend oder ans Laster gewohnt und entschlossen sind, ihren Weg fortzusetzen. Denn die Tugendhaften gehen leicht auf den Willen Gottes ein, während die Lasterhaften ohne Widerstand der Sinnlichkeit nachgeben.

Niemand soll sich aber einbilden, er werde eine echte, christliche Tugend erlangen und dem lieben Gott auf echte Weise dienen, wenn er nicht entschlossen ist, sich energisch Gewalt anzutun und tapfer das Weh zu ertragen, das der Mensch empfindet, wenn er nicht nur auf die größeren, sondern auch auf die kleinen Genüsse verzichten muß, in die er durch seinen erdhaften Sinn verstrickt ist.

Daher kommt es, daß nur sehr wenige das Ideal der Vollkommenheit erreichen.

Viele, die mit Mühe die größeren Laster überwunden haben, wollen sich nicht beständig Gewalt antun und das Unangenehme der andauernden Kämpfe mit den unzähligen kleineren Gelüsten und Leidenschaften auf sich nehmen, die dann in ihnen derartig wachsen, daß sie schließlich die Oberhand gewinnen und die Herrschaft und Gewalt über ihr ganzes Herz an sich reißen.

Unter ihnen befinden sich solche, die allerdings kein fremdes Gut anrühren, aber mit Leidenschaft an ihrem Besitz haften. Oder solche, die sich zwar nicht mit unerlaubten Mitteln Ehrenstellen verschaffen, jedoch dieselben nicht gebührend verachten und nicht aufhören, nach denselben zu verlangen und sie auf anderem Wege zu suchen. Wieder andere, die zwar die vorgeschriebenen Fasten beobachten, aber sonst ihre Gaumenlust nicht abtöten, sondern sich der Unmäßigkeit im Essen hingeben und mit Gier nach ausgesuchten Speisen ausschauen. Ebenso jene, die wohl ein enthaltsames Leben führen, aber gewissen Vergnügen nicht entsagen, welche der Vereinigung mit Gott und einem geistlichen Leben sehr im Wege stehen und für jede auch noch so heilige Seele, besonders aber für jene, die dieselben weniger fürchtet, von großer Gefahr und darum von jedermann möglichst zu meiden sind.

Infolgedessen werden auch ihre übrigen guten Werke im Geiste der Lauheit verrichtet und sind von starker Ichsucht und geheimer Unvollkommenheit begleitet, namentlich von einem gewissen Ehrgeiz und dem Verlangen, für die guten Werke von den Leuten gelobt und geachtet zu werden.

Wer in einem derartigen Zustand lebt, macht nicht nur keine Fortschritte auf dem Wege des Heiles, sondern geht sogar rückwärts und schwebt in großer Gefahr, in die alten Sünden zurückzufallen. Ein solcher liebt keineswegs die wahre Tugend und erweist sich wenig dankbar gegen den Herrn, der ihn der Tyrannei des bösen Feindes entrissen hat. Zudem ist er unwissend und blind; er will die Gefahr nicht sehen, in welcher er schwebt, indem er sich fälschlich einredet, er sei in einer guten Seelenverfassung.

Hier offenbart sich eine umso gefährlichere Selbsttäuschung, je weniger sie beachtet wird. Viele, die sich dem geistlichen Leben widmen, sich selbst aber mehr lieben als sie sollten (obwohl sie nicht einmal sich selbst wahrhaft zu lieben verstehen), verlegen sich meistens auf jene Übungen, die ihrem Geschmack zusagen, und unterlassen dann jene, welche sie in ihren natürlichen Neigungen und sinnlichen Trieben empfindlich treffen würden. Und doch sollte vernünftigerweise gerade gegen diese ihre ganze Kampfesbegeisterung gerichtet sein!

Und darum ermahne ich dich, meine christliche Seele, recht eindringlich, die Mühe und das Weh, welches die Selbstüberwindung mit sich bringt, liebzugewinnen. Denn hierauf kommt alles an.

Der Sieg wird umso sicherer und näher sein, je entschlossener du die Schwierigkeiten auf dich nimmst, die der Kampf um die Tugend den Anfängern verursacht.

Wenn du die Mühen und Opfer des Kampfes mehr liebst als den Sieg und die Tugendkrone, dann wirst du alles umso schneller erlangen.