1. Kapitel

Vom Wesen der christlichen Vollkommenheit

Um die christliche Vollkommenheit zu erringen, muß man kämpfen, wozu vier Dinge erforderlich sind.

Willst du, in Christus geliebte Seele, zum Gipfel der wahren Vollkommenheit aufsteigen und durch die Vereinigung mit Gott eins und eines Geistes mit ihm werden - etwas Erhabeneres, Besseres und Vorzüglicheres läßt sich nicht ausdenken -, dann mußt du vor allem wissen, worin das wahre und vollkommene geistliche Leben besteht.

 Ohne reiflich darüber nachgedacht zu haben, glauben viele, daß die Vollkommenheit in einer strengen Lebensweise bestehe, in der Abtötung der Sinnlichkeit, in Geißelungen und Bußübungen, in Fasten, langen Nachtwachen und anderen körperlichen Bußwerken.

Andere, und namentlich Frauen, meinen, einen hohen Grad der Vollkommenheit erreicht zu haben, wenn sie viele mündliche Gebete verrichten, oft der heiligen Messe und dem Gottesdienst beiwohnen, häufig die Kirche besuchen und die heiligen Sakramente empfangen.

Wieder andere, und unter diesen hie und da auch Ordenspersonen, reden sich ein, daß die Vollkommenheit hauptsächlich vom eifrigen Besuch des Chorgebetes, dem Stillschweigen, der Zurückgezogenheit und einer genauen Beobachtung der Regel abhänge.

Auf diese Weise verlegen die einen die Vollkommenheit in diese, andere wieder in jene äußere Übung. Aber so verhält sich die Sache denn doch nicht! Wohl sind die angeführten Werke mitunter Mittel zur Erlangung der wahren Vollkommenheit und bisweilen auch Auswirkungen und Früchte einer bereits erworbenen Vollkommenheit. Dennoch darf man nie behaupten, daß in ihnen allein der wahre Geist der Vollkommenheit bestehe.

Ohne Zweifel sind sie für diejenigen, die sie recht zu gebrauchen wissen, äußerst wirksame Mittel, um sich den wahren Geist anzueignen, durch den sie Kraft und Stärke gegen ihre eigene Bosheit und Schwäche erlangen, gegen die Anfechtungen und Nachstellungen des höllischen Feindes gesichert werden und schließlich in den Besitz jener geistlichen Hilfsmittel gelangen, die allen Dienern Gottes und insbesondere den Unerfahrenen im geistlichen Kampfe so notwendig sind.

Bei wahrhaft geistlichen Personen sind sie in der Tat Auswirkungen und Früchte einer schon erworbenen Seelenhaltung. Eben weil ihr Leib Gott beleidigte, züchtigen sie ihn, um ihn in Unterwürfigkeit und Bereitwilligkeit für den Dienst Gottes zu halten. Um auch die geringste Gelegenheit zur Sünde zu meiden, verbringen sie ihr Leben in Einsamkeit und Stillschweigen und widmen sich dem göttlichen Dienst und den Werken der Frömmigkeit, damit sie des himmlischen Umganges teilhaftig werden. So beten sie und betrachten das Leiden Jesu Christi nicht aus Neugierde oder um eines fühlbaren Trostes willen, sondern um ihre eigene Bosheit und Verkehrtheit, sowie Gottes Güte und Milde immer besser kennenzulernen. Besonders aber auch, um in sich die Liebe zu Gott und den Abscheu gegen sich selbst immer stärker zu entflammen, indem sie in Selbstverleugnung dem Gottessohne das Kreuz ständig nachtragen. Und um der größeren Ehre und Verherrlichung des Herrn willen nahen sie sich oftmals den heiligen Sakramenten, um sich dadurch inniger mit ihm zu vereinen und um neue und wirksamere Kräfte wider die Feinde auf dem geistlichen Wege zu erlangen.

Jenen aber, welche die vorgenannten äußeren Werke zur alleinigen Grundlage ihrer Vollkommenheit machen, können diese oft mehr als selbst wirkliche Sünden eine Ursache zum Falle sein; nicht deshalb, weil diese Übungen etwa nicht gut wären, sondern ihrer fehlerhaften Einstellung wegen. Einzig auf derartige Äußerlichkeiten bedacht, vernachlässigen sie ihr Inneres und überlassen ihr Herz ganz seinen ungeordneten Neigungen und dem Einfluß des hinterlistigen bösen Feindes. Bei der Wahrnehmung, daß sie bereits vom rechten Weg der Vollkommenheit abgewichen sind, läßt der Feind sie nicht nur mit innerem Wohlgefallen in der erwähnten Übung fortfahren, sondern auch an derselben ein solches Ergötzen finden, daß sie schon die Wonne des Paradieses zu genießen glauben und meinen, sie seien bereits unter die Chöre der Engel versetzt und Gott rede vertraulich mit ihnen. Deshalb sind sie vielfach von so hochfahrenden Gedanken und Gefühlen derartig eingenommen, daß sie wähnen, sie wären aller Welt und Kreatur entledigt und bis in den dritten Himmel entrückt.

In welch großem Irrtum aber solche Menschen gefangen und wieweit sie noch von der wahren Vollkommenheit, nach der wir streben, entfernt sind, läßt sich ihrem Leben und Benehmen gut entnehmen. In allen großen wie kleinen Dingen wollen sie vorgezogen werden und allen vorangehen. Sie sind eigensinnig und ganz versessen auf ihre Meinung, und während sie für ihre eigenen Fehler kein Auge haben, beobachten sie den Nächsten aufs schärfste und werfen sich über alle seine Worte und Handlungen zum Richter auf.

Wenn du ihnen auch nur im geringsten in ihrer hohen Meinung, die sie von sich haben und in der sie bei anderen zu stehen wünschen, zu nahe trittst und versuchst, sie von ihren gewohnheitsmäßig und oberflächlich verrichteten Andachtsübungen abzubringen, so geraten sie gleich in Aufregung und heftigen Zorn.

Sucht sie nun Gott gar mit Trübsal, Schmerz und Krankheit heim und läßt sie einmal unter Verfolgungen leiden - was ja niemals ohne seinen Willen geschieht und womit er seine Getreuen prüft, um sie zur wahren Selbsterkenntnis und auf den rechten Weg der Vollkommenheit zu führen -, dann offenbaren sich schnell ihre verkehrten Grundsätze und ihr vom Hochmut verdorbenes Herz. Bei keinem Vorkommnis, mag es günstig oder ungünstig für sie sein, wollen sie sich in Demut und Ergebenheit unter Gottes mächtige Hand und unter seine allzeit gerechten, wenn auch verborgenen Ratschlüsse beugen. Ebensowenig wollen sie sich nach dem Beispiel des überaus demütigen und sanftmütigen Gottessohnes einem Geschöpf unterwerfen und ihre Verfolger und Feinde, die doch nur Werkzeuge der Barmherzigkeit Gottes und Helfer zu ihrer Vervollkommnung und ihrem Heile sind, wie willkommene Freunde lieben.

Darum schweben auch solche Seelen sichtlich in großer Gefahr. Da ihr inneres Auge, womit sie sich und ihre äußeren, scheinbar guten Werke betrachten, verdunkelt ist, erröten sie nicht, sich einen hohen Grad der Vollkommenheit zuzuschreiben. Auf diese Weise werden sie durch ihre ungemein große Einbildung noch hochfahrender und verfallen leicht darauf, andere zu verurteilen und zu verachten, so daß sie nichts davon befreien kann als Gottes außerordentliche Gnadenhilfe. Viel leichter ist es nämlich, einen offenkundigen Sünder auf den Weg der Wahrheit zurückzuführen, als einen geheimen Sünder, der im Gewand eingebildeter Tugenden daherkommt. Aus dem Gesagten kannst du klar und deutlich erkennen, daß in keinem der angeführten Werke das wahre und vollkommene geistliche Leben besteht.

Sei überzeugt: Die wahre Vollkommenheit besteht in nichts anderem als in der Erkenntnis der Größe und Güte Gottes, wie auch in der Erkenntnis unserer eigenen Nichtigkeit und unserer Hinneigung zum Bösen; in der Liebe zu Gott und dem Haß gegen uns selbst; in bereitwilliger Unterwürfigkeit nicht allein Gott gegenüber, sondern auch gegen jedes Geschöpf; im gänzlichen Verzicht auf unseren eigenen Willen und der völligen Hingabe in den Willen Gottes, und zwar so, daß der alleinige Beweggrund all unseres Wollens und Handelns einzig Gottes Ehre, seine Verherrlichung und sein Wohlgefallen sein darf, weil er es so will und weil er es verdient, daß er von allen Geschöpfen geliebt werde.

Das ist das Gesetz der Liebe, das von Gottes Hand in das Herz seiner getreuen Diener geschrieben ist.

Das ist die Selbstverleugnung, die er von uns fordert.

Das ist sein „süßes Joch" und seine „leichte Bürde".

Das ist jener Gehorsam, zu welchem unser Erlöser und Meister uns durch sein Wort und Beispiel ruft. -

Da du nun einmal nach einer so hohen Vollkommenheit strebst, mußt du dir auch beständig Gewalt antun, um alle deine Begierden und Wünsche, mögen sie groß oder klein sein, hochherzig niederzuzwingen und vollkommen abzutöten, wie es auch unerläßlich ist, daß du dich zu diesem geistlichen Kampfe rüstest und vorbereitest, denn nur dem tapferen Kämpfer wird die Krone des Sieges zuteil werden.

Da wir in diesem Kampfe gegen uns selbst streiten und zu gleicher Zeit auch von uns selbst bekämpft werden, ist derselbe schwieriger als jeder andere, wie auch der errungene Sieg ruhmreicher und Gott wohlgefälliger ist als jeder andere Sieg.

Verlegst du dich mit allem Eifer darauf, die ungeordneten Neigungen deines Herzens und auch die kleinste widerspenstige Leidenschaft zu ertöten und zu zertreten, so erweisest du Gott einen größeren und wohlgefälligeren Dienst, als wenn du dich bis aufs Blut geißeln und durch strenge Fasten und Enthaltsamkeit die alten Einsiedler und Mönche übertreffen oder Tausende von Seelen zu Gott bekehren würdest, dabei aber einige ungeregelte Neigungen freiwillig in dir unterhalten würdest.

Freilich ist die Bekehrung der Seelen an sich Gott lieber als die Bekämpfung irgendeiner Begierde. Nichtsdestoweniger darfst du nicht das wollen und ausführen, was erhabener und vorzüglicher ist, sondern das, was Gott in erster Linie fordert und will. Zweifellos verlangt und wünscht er von dir zuerst, daß du den Kampf aufnimmst und auf die Überwindung deiner Leidenschaften bedacht bist, als daß du bei irgendeiner freiwilligen, ungeordneten Neigung große und erhabene Werke vollbringst.

Christliche Seele! Nun kennst du das Wesen der christlichen Vollkommenheit und weißt, daß du zu ihrer Erlangung einen ununterbrochenen und hartnäckigen Kampf gegen dich beginnen mußt; darum ist es auch notwendig, daß du dich mit brauchbaren Waffen versiehst, die in diesem geistlichen Kampfe zum Siege unentbehrlich sind.

Dieselben sind folgende: Das Mißtrauen gegen dich selbst, das Vertrauen auf Gott, die Tugendübung und das Gebet.

Mit Gottes Hilfe wollen wir uns in den folgenden Kapiteln mit diesen beschäftigen.