28.01.2017

Hl. Johannes Paul II. zum hl. Thomas von Aquin

Die bleibende Neuheit des Denkens des hl. Thomas von Aquin

Ein ganz besonderer Platz auf diesem langen Weg gebührt dem hl. Thomas nicht nur wegen des Inhalts seiner Lehre, sondern auch wegen der Beziehung, die er im Dialog mit dem arabischen und jüdischen Denken seiner Zeit herstellen konnte. In einer Epoche, in der die christlichen Denkerdie Schätze der antiken, genauer der aristotelischen Philosophie wieder entdeckten, kam ihm das große Verdienst zu, dass er die Harmonie, die zwischen Vernunft und Glaube besteht, in den Vordergrund gerückt hat. Das Licht der Vernunft und das Licht des Glaubens kommen beide von Gott, lautete sein Argument; sie können daher einander nicht widersprechen.

Noch grundlegender anerkennt Thomas, dass die Natur, die Gegenstand der Philosophie ist, zum Verstehen der göttlichen Offenbarung beitragen kann.

Der Glaube fürchtet demnach die Vernunft nicht, sondern sucht sie und vertraut auf sie. Wie die Gnade die Natur voraussetzt und vollendet, so setzt der Glaube die Vernunft voraus und vollendet sie. Vom Glauben erleuchtet, wird diese von der Gebrechlichkeit und den aus dem Ungehorsam der Sünde herrührenden Grenzen befreit und findet die nötige Kraft, um sich zur Erkenntnis des Geheimnisses vom dreieinigen Gott zu erheben.

Der Doctor Angelicus hat, so nachdrücklich er auch den übernatürlichen Charakter des Glaubens unterstrich, den Wert seiner Vernunftgemäßheit nicht vergessen; ja, er vermochte in die Tiefe zu gehen und den Sinn dieser, Vernunftgemäßheit näher zu erklären. Denn der Glaube ist eine Art „Denkübung“; die Vernunft nimmt sich durch ihre Zustimmung zu den Glaubensinhalten weder zurück noch erniedrigt sie sich; zu den Glaubensinhalten gelangt man in jedem Fall durch freie Entscheidung und das eigene Gewissen.

Aus diesem Grund ist der hl. Thomas zu Recht von der Kirche immer als Lehrmeister des Denkens und Vorbild dafür hingestellt worden, wie Theologie richtig betrieben werden soll. Ich möchte in diesem Zusammenhang anführen, was mein Vorgänger, der Diener Gottes Papst Paul VI., anläßlich des siebenhundertsten Todestages des hl. Thomas geschrieben hat: „Thomas besaß zweifellos in höchstem Maße den Mut zur Wahrheit, die Freiheit des Geistes, wenn er an die neuen Probleme heranging, die intellektuelle Redlichkeit dessen, der die Verschmelzung des Christentums mit der weltlichen Philosophie ebenso wenig gelten läßt wie deren apriorische Ablehnung. Er ging deshalb in die Geschichte des christlichen Denkens als ein Pionier auf dem neuen Weg der Philosophie und der universalen Kultur ein.

Der zentrale Punkt, ja gleichsam der Kernpunkt der Lösung, die er mit seinem genialen prophetischen Scharfsinn für das Problem der neuen Gegenüberstellung von Vernunft und Glaube fand, war die Versöhnung zwischen der säkularen Diesseitigkeit der Welt und der Radikalität des Evangeliums; damit entzog er sich der widernatürlichen Tendenz zur Leugnung der Welt und ihrer Werte, ohne allerdings die höchsten und unbeugsamen Ansprüche der übernatürlichen Ordnung zu vernachlässigen“.

Zu den großen Einsichten des hl. Thomas gehört auch jene bezüglich der Rolle, die der Heilige Geist dabei spielt, menschliches Wissen zu Weisheit reifen zu lassen. Bereits auf den ersten Seiten seiner Summa Theologiae zeigte der Aquinat den Vorrang jener Weisheit auf, die Gabe des Heiligen Geistes ist und in die Erkenntnis der göttlichen Wirklichkeiten einführt. Seine Theologie ermöglicht es, die Eigenart der Weisheit in ihrer engen Beziehung zum Glauben und zur Gotteserkenntnis zu begreifen.

Die Weisheit erkennt auf Grund ihrer Konnaturalität, sie setzt den Glauben voraus und formuliert schließlich ihr richtiges Urteil von der Wahrheit des Glaubens her: „Die Weisheit, die zu den Gaben des Heiligen Geistes zählt, unterscheidet sich von jener, die zu den Tugenden des Verstandes gehört. Diese letztere nämlich erwirbt man sich durch das Studium: jene hingegen ,kommt von oben‘, wie es der hl. Jakobus ausdrückt. So ist sie auch verschieden vom Glauben. Denn der Glaube nimmt die göttliche Wahrheit so an, wie sie ist: Eigenart der Gabe der Weisheit ist es hingegen, gemäß der göttlichen Wahrheit zu urteilen“.

Der Vorrang, den er dieser Weisheit zuerkennt, läßt den Doctor Angelicus freilich nicht das Vorhandensein zweier anderer ergänzender Weisheitsformen vergessen: die philosophische, die sich auf das Vermögen des Verstandes stützt, innerhalb der ihm angeborenen Grenzen die Wirklichkeit zu erforschen; und die theologische, die auf der Offenbarung beruht und die Glaubensinhalte prüft, wodurch sie zum Geheimnis Gottes selbst vorstößt.

Zutiefst davon überzeugt, dass „omne verum a quocumque dicatur a Spiritu Sancto est“, liebte der hl. Thomas in uneigennütziger Weise die Wahrheit. Er suchte sie überall, wo sie sich zeigen könnte, und machte ihre Universalität höchst einsichtig. Das Lehramt der Kirche hat in ihm die Leidenschaft für die Wahrheit erkannt und gewürdigt; sein Denken erreichte, eben weil es immer im Horizont der universalen, objektiven und transzendenten Wahrheit blieb, „Gipfel, wie sie die menschliche Intelligenz niemals zu denken vermocht hätte“. Er darf also mit Recht „Apostel der Wahrheit“ genannt werden. Weil er die Wahrheit vorbehaltlos anstrebte, konnte er in seinem Realismus deren Objektivität anerkennen. Seine Philosophie ist wahrhaftig die Philosophie des Seins und nicht des bloßen Scheins.

Aus der Enzyklika „Fides et ratio“, 14. September 1998