22.06.2017

Hl. Papst Johannes Paul II. Über das „ Vater unser“

1. „Vater unser im Himmel“

Gott als Vater anrufen bedeutet, in seiner Liebe die Quelle des Lebens zu erkennen. Im himmlischen Vater entdeckt der Mensch, der gerufen ist, sein Kind zu sein, «vor der Erschaffung der Welt erwählt zu sein, heilig und untadelig vor Gott zu leben, vor seinem Angesicht, aus Liebe» (Eph 1,4). Das Zweite Vatikanische Konzil erinnert daran, dass «Christus ... eben in der Offenbarung des Geheimnisses des Vaters und seiner Liebe dem Menschen den Menschen selbst voll kund macht und ihm seine höchste Berufung erschließt» (Gaudium et spes, 22). Für die menschliche Person ist die Treue zu Gott die Garantie der Treue zum eigenen Wesen und, auf diese Weise, der vollen Verwirklichung des eigenen Lebensentwurfs.

Jede Berufung hat ihre Wurzel in der Taufe, wenn der Christ, „wiedergeboren aus dem Wasser und dem Geist“ (Joh 3,5), Anteil erhält an jenem Gnadengeschehen, das Jesus an den Ufern des Jordan als „vielgeliebten Sohn“ offenbarte, an dem der Vater sein Wohlgefallen hat (Lk 3,22). Der Taufe entspringt durch jede christliche Berufung die Quelle der wahren Fruchtbarkeit. Dennoch ist es notwendig, die Katechumenen und die Kleinen mit besonderer Sorgfalt auf die Wiederentdeckung der Taufe und auf die Verwirklichung einer echten Kindschaftsbeziehung zu Gott hinzufüren.

2. „Geheiligt werde dein Name“

Die Berufung, „heilig, wie er heilig ist“, zu sein (Lev 11,44), wird Wirklichkeit, wenn man Gott den Platz einräumt, der ihm zusteht. In unserer Zeit, säkularisiert und doch fasziniert von der Suche nach dem Heiligen, herrscht ein besonderes Bedürfnis nach Heiligen, die dadurch, dass sie in ihrer Existenz intensiv die Voranstellung Gottes leben, seine liebevolle und fürsorgende Gegenwart erfahrbar machen.

Die Heiligkeit, ein Geschenk das unaufhörlich zu erflehen ist, stellt die wertvollste und wirksamste Antwort auf den Hunger nach Hoffnung und Leben in der Welt unserer Zeit dar. Die Menschheit braucht heilige Priester und geweihte Seelen, die täglich die Ganzhingabe ihrer Selbst an Gott und den Nächsten leben; Väter und Mütter, die fähig sind, daheim ihr Zeugnis für die Gnade des Ehesakraments zu geben und so in ihrer Umgebung wieder die Sehnsucht wachrufen, den Plan des Schöpfers mit der Familie in die Tat umzusetzen; junger Menschen, die persönlich Christus entdeckt haben und davon so fasziniert geblieben sind, dass sie auch ihre Altersgenossen für das Evangelium begeistern.

3. „Dein Reich komme“

Heiligkeit ruft nach dem „Reich Gottes“, das Jesus symbolisch mit dem großen Freudenmahl darstellte, das zwar jedem angeboten ist, aber nur für die bestimmt ist, die bereit sind, das „Hochzeitsgewand“ der Gnade anzuziehen.

Die Anrufung „dein Reich komme“ fordert zur Umkehr auf und erinnert daran, dass der irdische Alltag des Menschen vor und über allem anderen von der tagtäglichen Suche nach dem Reich Gottes geprägt sein muss. Es ist eine Anrufung, die einlädt, die Welt der vergänglichen Worte zu verlassen, um großherzig, trotz aller Schwierigkeiten und Hindernisse, den Auftrag anzunehmen, zu dem der Herr ruft.

Den Herrn zu bitten, „dein Reich komme“, heißt auch, das Haus des Vaters als eigenen Aufenthaltsort zu wählen und nach dem Stil des Evangeliums zu leben, zu arbeiten und im Geiste Jesu zu lieben; bedeutet gleichzeitig zu entdecken, dass das Reich ein „kleines Samenkorn“ ist, versehen mit unverdächtiger Lebensfülle, aber dauernd der Gefahr ausgesetzt, verworfen und zertreten zu werden.

Mögen alle, die zum Priestertum oder zum Ordensleben berufen sind, den Samen des Rufes, den Gott in ihr Herz gelegt hat, mit großherziger Bereitschaft aufnehmen können. Indem er sie Christus mit ungeteiltem Herzen nachzufolgen heißt, lädt sie der Vater ein, fröhliche und freimütige Apostel des Reiches zu sein. In der großherzigen Antwort auf die Einladung werden sie jenes wahre Glück finden, nach dem ihr Herz sich sehnt.

4. „Dein Wille geschehe“

Jesus hat gesagt: „Meine Speise ist es, den Willen dessen zu tun, der mich gesandt hat, und sein Werk zu Ende zu führen“ (Joh 4,34). Mit diesen Worten offenbart er, dass der Entwurf der persönlichen Existenz eingeschrieben ist in einen fürsorglichen Plan des Vaters. Um ihn zu entdecken, ist es notwendig, eine allzu irdische Deutung des Lebens aufzugeben und das Fundament und den Sinn der eigenen Existenz in Gott festzumachen. Die Berufung ist vor allem Geschenk Gottes: sie ist nicht Wählen, sondern Erwähltwerden; sie ist Antwort auf eine Liebe, die vorausgeht und begleitet. Wer sich gelehrig dem Willen Gottes anheimstellt, für den wird das Leben zum empfangenen Gut, das aufgrund seiner Natur danach strebt, sich in Opfer und Gabe zu verwandeln.

5. „Unser tägliches Brot gib uns heute“

Jesus machte den Willen seines Vaters zu seiner täglichen Nahrung (vgl. Joh 4,34) und lud die Seinen ein, das Brot zu kosten, mit dem der Hunger des Geistes gestillt wird: das Brot des Wortes und der Eucharistie.

Nach dem Beispiel Mariens ist es notwendig zu lernen, das Herz zur Hoffnung zu erziehen, indem es jenes „Unmögliche“ Gottes lernt, das vor Freude und Dankbarkeit jubeln läßt. Denen, die großherzig auf die Einladung des Herrn antworten, werden auf diese Weise die freudigen und traurigen Ereignisse der Existenz Gegenstand vertrauter Unterredung mit dem Vater sowie Gelegenheit unaufhörlicher Wiederentdeckung der eigenen Identität als geliebte Kinder, die dazu berufen sind, in eigener und besonderer Rolle am großen Heilswerk für die Welt teilzuhaben, das durch Christus begonnen und nun seiner Kirche anvertraut ist.

6. „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“

Vergebung und Versöhnung sind das große Geschenk, dass seit dem Augenblick in die Welt eingebrochen ist, in dem Jesus, gesandt vom Vater, „das Gnadenjahr des Herrn“ (Lk 4,19) für angebrochen erklärte. Er machte sich zum „Freund der Sünder“ (Mt 26,28), gab sein Leben „zur Vergebung der Sünden“ und sandte schließlich seine Jünger in jeden Winkel der Erde zur Verkündigung von Buße und Vergebung.

Im Wissen um die menschliche Gebrechlichkeit hat Gott dem Menschen den Weg der Barmherzigkeit und der Vergebung bereitet als Erfahrung, die sich mitteilen läßt — man erlangt Vergebung, wenn man vergibt -, damit in dem von der Gnade erneuerten Leben die echten Züge der wahren Kinder des einzigen himmlischen Vaters sichtbar werden.

7. „Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen“

Das christliche Leben ist ein andauernder Vorgang der Befreiung vom Bösen und von der Sünde. Mit dem Sakrament der Versöhnung werden die Macht Gottes und seine Heiligkeit als neue Kraft geschenkt, die zur Freiheit zu lieben hinführt und das Gute triumphieren läßt.

Der Kampf gegen das Böse, den Christus tapfer geführt hat, ist heute der Kirche und jedem Christen anvertraut, gemäß der Berufung, dem Charisma und dem Dienst eines jeden einzelnen. Eine grundlegende Rolle kommt all denen zu, die zum Weihedienstamt erwählt worden sind: Bischöfe, Priester und Diakone. Doch wird ein unersetzlicher und spezifischer Beitrag ebenso von den Instituten des geweihten Lebens geboten, deren Glieder «durch ihre Weihe und Ganzhingabe die liebende und heilbringende Gegenwart Christi sichtbar machen, der vom Vater geheiligt und in die Welt gesandt wurde» (Vita Consecrata, 76).

Wie könnte man nicht unterstreichen, dass die Förderung der Berufungen zum Weihedienstamt und zum Ordensleben eine gemeinsame harmonische Anstrengung der ganzen Kirche und der einzelnen Gläubigen werden muss? Ihnen trägt der Herr auf: «Bittet den Herrn der Ernte, Arbeiter für seine Ernte auszusenden» (Lk 9,38).