20.01.2017

Hl. Papst Johannes Paul II. zu Ehe und Familie

1. [...] Die Familie ist die Kernzelle der Gesellschaft. Sie stützt sich auf die feste Grundlage jenes Naturrechts, das alle Menschen und alle Kulturen verbindet. Es ist dringend notwendig, diesen Aspekt, auf den ich an den nächsten Sonntagen noch zurückkommen will, ins Bewusstsein zu rücken.

Denn nicht selten wird das Beharren der Kirche auf der Ehe- und Familienethik missverstanden, als ob die christliche Gemeinschaft der ganzen Gesellschaft eine nur für die Gläubigen gültige Glaubenssicht aufzwingen wolle. Man sah das zum Beispiel an einigen Reaktionen auf die Missbilligung, die ich offen zum Ausdruck gebracht hatte, als das Europa-Parlament eine neue Familienform, gekennzeichnet durch die Verbindung homosexueller Personen, als rechtsgültig erklären wollte.

In Wirklichkeit ist die Ehe als feste Verbindung eines Mannes und einer Frau, die sich zum gegenseitigen Sich-selbst-Schenken verpflichten und offen sind für die Weitergabe des Lebens, nicht nur ein christlicher Wert, sondern ein ursprünglicher Wert der Schöpfungsordnung. Diese Wahrheit verlieren bedeutet nicht nur ein Problem für die Glaubenden, sondern eine Gefahr für die ganze Menschheit.

2. Heute schleicht sich leider ein Relativismus ein, der drängt, selbst das Bestehen einer objektiven Wahrheit anzuzweifeln. Es erklingt wieder die bekannte, von Pilatus an Jesus gestellte Frage: „Was ist Wahrheit?“ (Joh 18, 38). Ausgehend von diesem Skeptizismus, kommt man zu einem falschen Begriff von Freiheit, der sich jeder ethischen Begrenzung entziehen und die augenscheinlichsten Gegebenheiten der Natur nach eigenem Belieben neu formulieren will.

Gewiss, der Mensch entdeckt die Wahrheit immer in begrenztem Maß und kann sich als ein „Pilger“ der Wahrheit betrachten. Aber das ist ganz verschieden vom Relativismus und vom Skeptizismus.

Denn die Erfahrung lehrt, dass unser von vielfältigen Abhängigkeiten getrübter oder geschwächter Verstand trotzdem die Wahrheit der Dinge zu erfassen imstande ist, zumindest wenn es sich um jene Grundwerte handelt, die das Leben der einzelnen und der Gesellschaft ermöglichen. Sie sind dem Gewissen eines jeden als gemeinsames Erbe der Menschheit eingepflanzt. Appelliert nicht das Gewissen aller an dieses Erbe, wenn es die Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt, obwohl sie von irgendeinem Gesetzgeber befürwortet werden? In Wahrheit geht das Naturrecht, gerade weil es von Gott ins Herz geschrieben ist, jedem von Menschen gemachten Gesetz voraus und bemisst seine Gültigkeit.

1. Auch heute möchte ich fortfahren in den Überlegungen zu Ehe, Familie und Naturrecht. Das Fundament der Familie ist die Liebe zwischen einem Mann und einer Frau: eine Liebe, verstanden als gegenseitiges, tiefgehendes Sich-Schenken, das auch in der geschlechtlichen, ehelichen Vereinigung Ausdruck findet.

Der Kirche wird manchmal vorgeworfen, sie mache die Geschlechtlichkeit zum Tabu. Die Wahrheit ist ganz anders! Das christliche Denken hat im Laufe der Geschichte im Gegensatz zu den manichäischen Strömungen ein harmonische und positive Sicht des Menschen entwickelt und die bedeutende und wertvolle Rolle anerkannt, die das Mann- bzw. Frausein im Leben des Menschen spielt.

Im übrigen ist auch die Botschaft der Bibel unmissverständlich: »Gott schuf also den Menschen als sein Abbild ... Als Mann und Frau schuf er sie« (Gen 1, 27). In dieser Bekräftigung ist die Würde jedes Mannes und jeder Frau in ihrer naturgegebenen Gleichheit, aber auch in ihrer geschlechtlichen Verschiedenheit deutlich ausgedrückt. Sie ist eine Gegebenheit, die die Beschaffenheit des Menschen tief beeinflusst. »Aus dem Geschlecht nämlich ergeben sich die besonderen Merkmale, die die menschliche Person im biologischen, psychologischen und geistigen Bereich als Mann und Frau bestimmen« (Persona Humana 1).

Ich betonte es jüngst im Brief an die Familie: »Der Mensch wurde ‘am Anfang’ als Mann und Frau geschaffen: Das Leben der menschlichen Gemeinschaft — der kleinen Gemeinschaften wie der ganzen Gesellschaft — trägt das Zeichen dieser Ur-Dualität. Aus ihr gehen die ‘Männlichkeit’ und die ‘Weiblichkeit’ der einzelnen Individuen hervor, so wie aus ihr jede Gemeinschaft ihren je eigentümlichen Reichtum in der gegenseitigen Ergänzung der Personen schöpft« (Brief an die Familien, 6)

2. Die Sexualität gehört also zum ursprünglichen Plan des Schöpfers, und die Kirche kann nicht umhin, sie hochzuschätzen. Gleichzeitig kann sie auch nicht umhin, jeden aufzufordern, die Geschlechtlichkeit in ihrer tiefgehenden Natur zu achten.

Als eine in die Gesamtheit der Person eingeschriebene Dimension ist die Sexualität eine »Ausdrucksweise« der Liebe und kann deshalb nicht als reine Triebhaftigkeit gelebt werden. Sie muss vom Menschen als vernunftbegabtes und freies Lebewesen gelenkt werden.

Das heißt jedoch nicht, dass sie nach Belieben manipuliert werden kann. Tatsächlich besitzt sie eine typische psychologische und biologische Struktur, die die Gemeinsamkeit zwischen Mann und Frau und die Geburt neuer Menschen zum Ziel hat. Diese Struktur und diese unauflösliche Verbindung zu achten bedeutet nicht »Biologismus» oder »Moralismus«, sondern Aufmerksamkeit für die Wahrheit des Menschseins, des Personseins. Aufgrund dieser auch im Licht der Vernunft erfassbaren Wahrheit sind die sogenannte »freie Liebe«, die Homosexualität und die Empfängnisverhütung moralisch unannehmbar. Denn es handelt sich um Verhaltensweisen, die die tiefe Bedeutung der Sexualität umkehren, indem sie diese daran hindern, der Person, der Gemeinschaft und dem Leben zu dienen.

Ansprachen vom 19. und 26. Juni 1994