18.03.2017

Hl. Johannes Paul II. zum heutigen Evangelium = zur Versöhnung

Am Beginn dieses Apostolischen Schreibens steht vor meinem geistigen Auge jener außerordentliche Text des hl. Lukas, dessen tiefen religiösen wie menschlichen Inhalt ich schon in einem früheren Dokument zu erläutern versucht habe. Ich meine das Gleichnis vom verlorenen Sohn.

Vom Bruder, der verloren war...

»Ein Mann hatte zwei Söhne. Der jüngere von ihnen sagte zu seinem Vater: Vater, gib mir das Erbteil, das mir zusteht«, so erzählt Jesus bei der Darstellung der dramatischen Geschichte dieses jungen Mannes: der leichtsinnige Weggang aus seinem Vaterhaus, die Vergeudung all seines Besitzes in einem ausschweifenden Lebenswandel ohne Sinn, die dunklen Tage der Fremde und des Hungers, aber mehr noch die Tage der verlorenen Würde, der Erniedrigung und Beschämung und schließlich die Sehnsucht nach dem Vaterhaus, der Mut zur Heimkehr, der Empfang durch den Vater. Dieser hatte den Sohn keineswegs vergessen; im Gegenteil, er hatte ihm unverändert Liebe und Achtung bewahrt. So hatte er immer auf ihn gewartet, und so umarmt er ihn jetzt, während er zum großen Fest für denjenigen auffordert, der tot war und wieder lebt, der verloren war und wiedergefunden wurde.

Der Mensch — ein jeder Mensch — ist ein solcher verlorener Sohn: betört von der Versuchung, sich vom Vater zu trennen, um ein unabhängiges Leben zu führen; dieser Versuchung verfallen; enttäuscht von der Leere, die ihn wie ein Blendwerk verzaubert hatte; allein, entehrt, ausgenutzt, als er sich eine Welt ganz für sich allein zu schaffen versucht; auch in der Tiefe seines Elendes noch immer gequält von der Sehnsucht, zur Gemeinschaft mit dem Vater zurückzukehren. Wie der Vater im Gleichnis erspäht Gott den heimkehrenden Sohn, er umarmt ihn bei seiner Ankunft und läßt die Tafel herrichten für das Festmahl ihrer neuen Begegnung, mit dem der Vater und die Brüder die Wiederversöhnung feiern.

Was an diesem Gleichnis am meisten beeindruckt, ist die festliche und liebevolle Aufnahme, die der Vater dem heimkehrenden Sohn bereitet: ein Zeichen der Barmherzigkeit Gottes, der immer bereit ist zu verzeihen. Sagen wir es gleich: Die Versöhnung ist in erster Linie ein Geschenk des himmlischen Vaters

... zum Bruder, der zu Hause geblieben war

Das Gleichnis läßt aber auch den älteren Bruder auftreten, der seinen Platz beim Festmahl verschmäht. Er wirft dem jüngeren Bruder dessen lockeres Treiben vor und dem Vater den Empfang, den dieser dem verlorenen Sohn vorbehalten habe, während es ihm selbst, immer beherrscht und fleißig und treu zum Vater und zum Hause stehend, niemals erlaubt worden sei — wie er sagt -, mit seinen Freunden ein Fest zu feiern. Ein Zeichen, dass er die Güte des Vaters nicht versteht. Solange dieser Bruder, von sich selbst und seinen Verdiensten allzu sehr überzeugt, eifersüchtig und verächtlich, voller Bitterkeit und Zorn, sich nicht bekehrt und mit dem Vater und dem Bruder versöhnt, ist dieses Mahl noch nicht ganz das Fest der Begegnung und des Sich-Wiederfindens.

Der Mensch — ein jeder Mensch — ist auch ein solcher älterer Bruder. Egoismus macht ihn eifersüchtig, läßt sein Herz hart werden, verblendet und verschließt ihn gegenüber den anderen und vor Gott. Die Güte und Barmherzigkeit des Vaters reizen und ärgern ihn; das Glück des heimgekehrten Bruders schmeckt ihm bitter. Auch in dieser Hinsicht hat der Mensch es nötig, sich zu bekehren, um sich auszusöhnen.

Das Gleichnis vom verlorenen Sohn ist vor allem die wunderbare Geschichte der großen Liebe Gottes, des Vaters, der dem zu ihm heimgekehrten Sohn das Geschenk einer vollständigen Versöhnung anbietet. Weil es aber in der Gestalt des älteren Bruders ebenso an den Egoismus erinnert, der die Brüder untereinander entzweit, wird es auch zur Geschichte der Menschheitsfamilie. Es kennzeichnet unsere Lage und gibt den zu gehenden Weg an. Der verlorene Sohn in seiner Sehnsucht nach Umkehr, nach Heimkehr in die Arme des Vaters und nach Vergebung stellt all jene dar, die im Grund ihres Herzens die Sehnsucht nach einer Aussöhnung auf allen Ebenen und ohne Vorbehalt verspüren und mit innerer Sicherheit sehen, dass diese nur dann möglich ist, wenn sie sich von jener ersten, grundlegenden Aussöhnung herleitet, die den Menschen aus der Gottferne zur kindhaften Freundschaft mit Gott bringt, um dessen unendliche Barmherzigkeit er weiß. Wenn es jedoch mit dem Blick auf den anderen Sohn gelesen wird, beschreibt das Gleichnis die Lage der Menschheitsfamilie, die von ihren Egoismen zerrissen ist; es beleuchtet die Schwierigkeiten, der Sehnsucht und dem Heimweh nach einer gemeinsamen, versöhnten und geeinten Familie zu entsprechen, und erinnert so an die Notwendigkeit einer tiefen Änderung der Herzen verbunden mit der Wiederentdeckung der Barmherzigkeit des Vaters und der Überwindung von Unverständnis und Feindseligkeit unter Brüdern.

Im Licht dieses unerschöpflichen Gleichnisses von der Barmherzigkeit, die die Sünde tilgt, versteht die Kirche, in dem sie den darin enthaltenen Anruf aufnimmt, ihre Sendung, auf den Spuren des Herrn für die Bekehrung der Herzen und die Versöhnung der Menschen mit Gott und untereinander zu wirken, zwei Bereiche, die eng miteinander verbunden sind.

Apostolisches Schreiben „Reconciliatio et paenitentia“ (Versöhnung und Buße) § 5-6 vom 2. Dezember 1984