16. 01.2017

Ich sehe von Santiago de Compostela aus den europäischen Kontinent vor mir, das ausgedehnte Straßennetz, das die Städte und Nationen miteinander verbindet, und jene Wege, die schon im Mittelalter hierhin führten und immer noch unzählige Scharen von Pilgern zur Verehrung des Apostels lenken. Seit dem elften und zwölften Jahrhundert pilgerten die Gläubigen aus allen Teilen Europas über den berühmten Jakobsweg zum Grab des Jakobus bis zur Finis terrae: dem Ende der Erde, wie die Menschen damals diese Landschaft noch sahen.

Hierher kam Christen aus allen sozialen Schichten, vom König bis zum ärmsten Dorfbewohner (…) mit unterschiedlichem geistigen Niveau. Es kamen Heilige — wie Franz von Assisi und Brigitte von Schweden — bis hin zu vielen offen um Vergebung suchenden Sündern. (…) Schon Goethe hat festgestellt, dass das Bewusstsein Europas aus den Wallfahrten gewachsen ist.

Die Pilgerfahrt nach Santiago war eines der wichtigsten Elemente zur Förderung des gegenseitigen Verständnisses so unterschiedlicher Völker wie der Lateiner, Germanen, Kelten, Angelsachsen und Slawen. (…) Sie brachte die Menschen einander näher, verband und einigte sie. Jahrhundert und Jahrhundert begegneten sich auf der Pilgerreise Menschen als Zeugen Christi, die sich zum Evangelium bekannten und dabei zu verschiedenen Nationen entwickelten.

Schließlich deckten sich die europäischen Grenzen mit dem Verbreitungsgebiet des Evangeliums. Trotz blutiger Konflikte zwischen den Völkern Europas und trotz der geistigen Krisen, die das Leben des Kontinents erschütterten, muss man nach zwei Jahrtausenden unserer Geschichte zugeben, dass die europäische Identität ohne das Christentum nicht verständlich ist. Gerade im Christentum finden sich jene gemeinsamen Wurzeln, aus denen die Zivilisation des Kontinents erwachsen ist, seine Kultur, seine Dynamik, seine Unternehmungslust, seine Fähigkeit zur konstruktiven Ausbreitung auch in andere Kontinente, kurz alles, was den Ruhm Europas ausmacht.

Von daher bleibt auch in unserer Zeit die Seele Europas geeint. Wir haben einen gemeinsamen Ursprung, wir leben von den gleichen christlichen und humanitären Werten. Dazu gehört die Würde der menschlichen Person, das Empfinden für Gerechtigkeit und Freiheit, der hohe Ruf der Arbeit und der Unternehmungsgeist, die Achtung vor dem Leben, die Toleranz, der Wunsch zur Zusammenarbeit und zum Frieden.

So richte ich meinen Blick von hier auf Europa als den Kontinent, der so viel zur Entwicklung der Welt beigetragen hat, im Bereich der Ideen wie im Bereich der Arbeit, der Wissenschaft und der Künste. Ich danke Gott, dass er Europa seit den Tagen der Apostel mit dem Licht des Evangeliums erleuchtet hat.

Aber ich kann nicht von der Krise schweigen, die das christliche Zeitalter an der Schwelle zum dritten Jahrtausend kennzeichnet. Auf ziviler Ebene ist Europa geteilt. Die unnatürlichen Brüche erlauben den Völkern nicht mehr, sich in einem Klima der Freundschaft zu begegnen und freiwillig ihre Kräfte und Fähigkeiten solidarisch im Dienst eines friedlichen Zusammenlebens zur Lösung gemeinsamer Probleme zu verbinden. Das Zivilleben ist säkularisiert und von Ideologien geprägt, die von der Leugnung Gottes und der Beschränkung der Religionsfreiheit bis zur Überbewertung des wirtschaftlichen Erfolgs gegenüber den menschlichen Werten der Arbeit und der Produktion reichen. Das reicht von den Weltanschauungen des Materialismus und Hedonismus, die die Werte der Familie, des empfangenen Lebens und den moralischen Schutz der Jugend in Frage stellen, bis zu einem Nihilismus, der den Willen zur Auseinandersetzung mit entscheidenden Problemen lähmt, wie etwa den neuen Armen, den Emigranten, den ethnischen und religiösen Minderheiten, den rechten Gebrauch der Medien — und gleichzeitig den Terrorismus mit Waffen versorgt.

Auch auf religiöser Ebene ist Europa geteilt. Nicht so sehr wegen der Spaltungen, die im Lauf der Jahrhunderte entstanden sind, sondern mehr noch wegen der Abkehr vieler Getaufter von dem tiefen Grund ihres Glaubens und der moralischen Kraft der christlichen Lebensanschauung, die den Personen und Gemeinschaften ihr Gleichgewicht garantiert.

So rufe ich, Johannes Paul, Sohn der polnischen Nation, (…) dir, altes Europa, von Santiago aus voller Liebe zu: Kehr um! Finde wieder zur dir selbst! Sei wieder du selbst! Besinne dich auf deinen Ursprung! Belebe deine Wurzeln wieder! Baue deine geistige und freie Einheit wieder auf in einer Atmosphäre der Achtung gegenüber anderen Religionen! Gib Cäsar, was des Cäsars ist, und Gott, was Gottes ist! (…) Noch immer kannst du Leuchtturm der Zivilisation und Anreiz zum Fortschritt für die Welt sein. Die anderen Kontinente blicken auf dich und erhoffen von dir die Antwort des Jakobus zu hören, die er Christus gab: „Ich kann es.“

Wenn Europa wieder eins wird bei Berücksichtigung all seiner Unterschiede, wenn Europa seine Tore wieder Christus öffnet und keine Angst hat, die Grenzen der Staaten, der wirtschaftlichen und politischen Systeme, die weiten Bereiche der Kultur, der Zivilisation und des Fortschritts seiner rettenden Macht zu öffnen (…), dann wird seine Zukunft nicht von Unsicherheit und Furcht beherrscht sein, sondern dann wird Europa sich einer neuen Epoche des Lebens öffnen zum Segen für die ganze Welt — die doch immer noch und ständig von den Wolken des Krieges und einem möglichen Orkan atomarer Massenvernichtung bedroht ist.

Im weiteren Verlauf spricht der Heilige Vater über die heiligen Benedikt von Nursia (5./6. Jh.), Gründer des Benediktinerordens und Patriarch des Abendlandes und Kyrill und Method (9. Jh.), den griechischen Brüdern, die zu Aposteln der slawischen Völker wurden. Allen verdanke Europa sehr viel.

Ihrer Fürsprache vertraue ich deshalb nun noch einmal Europa an, zusammen mit der seligsten Jungfrau, wobei ich an die Verehrung der Mutter Gottes in so vielen Heiligtümern Europas erinnere, von Fatima bis Ostra Brama, von Lourdes und Loreto bis Tschenstochau, und bitte sie, die Gebete so vieler Herzen zu erhören, damit das Gute in Europa weiter wirklich bleibt und Christus unseren Kontinent immer in Gott verankert hält.

Ansprache in Santiago de Compostela, 9. November 1982