08.02.2017

Hl. Papst Johannes Paul II. zur Täuschung der Vernunft

Der hl. Paulus hilft uns im ersten Kapitel seines Briefes an die Römer, die Überlegung der Weisheitsbücher in ihrer Eindringlichkeit besser zu würdigen. Mit seiner Darlegung einer philosophischen Argumentation in der Sprache des Volkes bringt der Apostel eine tiefe Wahrheit zum Ausdruck: Durch die Schöpfung können die „Augen des Verstandes“ zur Erkenntnis Gottes gelangen. Denn durch die Geschöpfe lässt Er die Vernunft Seine „Macht“ und Seine „Gottheit“ erahnen (vgl. Röm 1, 20).

Der Vernunft des Menschen wird also eine Fähigkeit zuerkannt, die gleichsam ihre natürlichen Grenzen zu übersteigen scheint: nicht nur dass sie von dem Augenblick an, wo sie kritisch darüber nachdenken kann, nicht mehr in die sinnliche Erkenntnis verbannt ist, sondern auch durch das Argumentieren über die Sinneswahrnehmungen kann sie zu dem Grund vordringen, der am Anfang jeder sinnlich wahrnehmbaren Wirklichkeit steht. In philosophischer Fachsprache könnten wir sagen, dass in dem wichtigen Text die metaphysische Fähigkeit des Menschen bejaht wird.

Nach Überzeugung des Apostels war im ursprünglichen Schöpfungsplan die Fähigkeit der Vernunft vorgesehen, die Sinnenwelt mit Leichtigkeit zu übersteigen, um zum eigentlichen Ursprung von allem zu gelangen: dem Schöpfer. Infolge des Ungehorsams, durch den sich der Mensch die volle und absolute Unabhängigkeit gegenüber seinem Schöpfer erwirken wollte, ist diese Leichtigkeit des Aufstiegs zum Schöpfergott verloren gegangen.

Das Buch Genesis beschreibt auf anschauliche Weise diesen Zustand des Menschen, wenn es davon erzählt, dass Gott ihn in den Garten Eden setzte, in dessen Mitte „der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse“ stand (Gen 2, 17). Das Symbol ist klar: Der Mensch war nicht in der Lage, von sich aus zu unterscheiden und zu entscheiden, was gut und was böse war, sondern musste sich auf ein höheres Prinzip berufen.

Verblendung durch Überheblichkeit verführte unsere Stammeltern zu der trügerischen Täuschung, sie wären souverän und unabhängig und könnten auf die von Gott stammende Erkenntnis verzichten. In ihren Ur-Ungehorsam zogen sie jeden Mann und jede Frau hinein und fügten der Vernunft Wunden zu, die von da an den Weg zur vollen Wahrheit behindern sollten. Das menschliche Vermögen, die Wahrheit zu erkennen, wurde nunmehr von der Auflehnung gegen denjenigen beeinträchtigt, der Quelle und Ursprung der Wahrheit ist.

Wieder ist es der Apostel, der darlegt, wie aufgrund der Sünde die Gedanken der Menschen „nichtig“ geworden sind und sich ihre Überlegungen als entstellt und falsch orientiert erwiesen haben (vgl. Röm 1, 21-22). Die Augen des Verstandes waren nun nicht mehr in der Lage, klar zu sehen:

Die Vernunft wurde zunehmend zur Gefangenen ihrer selbst. Das Kommen Christi war das Heilsereignis, das die Vernunft aus ihrer Schwachheit erlöste und sie von den Fesseln, in denen sie sich selbst gefangen hatte, befreite.

...

Alle bitte ich, sich intensiv um den Menschen, den Christus im Geheimnis seiner Liebe gerettet hat, und um sein ständiges Suchen nach Wahrheit und Sinn zu kümmern. Verschiedene philosophische Systeme haben ihn durch Täuschung überzeugt, dass er sein absolut eigener Herr sei, der autonom über sein Schicksal und seine Zukunft entscheiden könne, wenn er ausschließlich auf sich selbst und seine Kräfte vertraut. Das wird niemals die Größe des Menschen ausmachen können.

Bestimmend für seine Verwirklichung wird nur die Entscheidung sein, sich dadurch in die Wahrheit einzufügen, dass er im Schatten der Weisheit seine Wohnung errichtet und in ihr wohnen bleibt.

Erst in diesem Wahrheitshorizont wird er begreifen, wie sich seine Freiheit im Vollsinn entfaltet und dass er zur Liebe und zur Erkenntnis Gottes berufen ist. Darin liegt seine höchste Selbstverwirklichung.

Enzyklika Fides et Ratio, 14. September 1998